die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
streckte sich nach dem Krähengeist aus und bat ihn darum, einen seiner Art zu schicken, um die Folter ihrer Nachbarn und Freunde zu beenden.
Eine halbe Minute später rief eine Krähe über ihnen, vom höchsten Ast eines Hickorybaumes aus. Der Gesang verging, und die Erleichterung, die niemand laut aussprach, war spürbar, als alle aufsahen, um die Quelle des Geräusches zu bestätigen.
Der Vogel schrie noch einige Male, und jedes Mal wippten dabei sein Kopf und seine Brust. Eine unsichtbare Krähe, wohl der Partner dieses Vogels, antwortete auf den Ruf von einem Hügel aus. Als die Krähe abhob, bewegte sich der Ast, und ein einziges, totes Blatt fiel auf den Boden. Der Herbst nahte.
Der Vogel strich an der Laube vorbei, schlug mit den Flügeln gegen die Luft und ließ das sanfteste und zugleich härteste Geräusch ertönen, das Rhia je gehört hatte.
Ein ersticktes Schluchzen zu ihrer Linken verkündete, dass Tereus seiner Trauer unterlegen war. Sie schlang ihre Arme um den Hals ihres Vaters, und sie weinten einander gegen die Schulter, während Mayras Körper langsam in das Grab hinabgelassen wurde.
Der Schmerz ihres Vaters breitete sich wie Wellen von ihm aus. Tereus hatte schon oft verkündet, dass er nie wieder heiraten wollte, wenn er Mayra überlebte. Jetzt glaubte Rhia ihm und weinte um seine Leere.
Nach der Zeremonie wurde am Hang ein Gelage abgehalten. Die Dorfbewohner stellten sich in langen Reihen nach Wasser und Bier an, weil ihre Kehlen zweifellos vom Singen ausgetrocknet waren.
Tereus und Rhia saßen auf der Eingangstreppe, für alle gut sichtbar – so kam es Rhia zumindest vor. Die Teilnehmer der Beerdigung zogen an ihnen vorbei, um sie zu grüßen, aber nachdem ihr Vater einen von ihnen mitgenommen hatte, um auf der Koppel nach dem neuen Jährling zu sehen, riss der Besucherstrom ab. Ihre Brüder hatten sich bereits in einen weit entfernten Winkel des Hofes zurückgezogen, offensichtlich wollten sie allein sein.
Areas setzte sich bald zu Rhia.
„Bist du sicher, dass du mit mir gesehen werden willst?”, fragte sie.
„Ich bin mir sicher, dass ich bei dir sein will.”
Sie deutete auf die Dorfbewohner, die sich in Gruppen von acht bis zwölf zusammengeschlossen hatten, um zu essen. „Keiner von ihnen will mich auch nur ansehen, geschweige denn mir Gesellschaft leisten. Meine eigenen Brüder haben nicht mit mir gesprochen, seit sie gestorben ist.”
Areas betrachtete den fransigen Saum seines Ärmels. „Sie trauern. Erwarte nicht von ihnen, dass alles, was sie tun, einen Sinn ergibt.”
„Aber irgendetwas passt nicht. Wir haben uns letzte Nacht gut verstanden. Ich dachte, sie hätten mir vergeben, dass ich nicht die Macht hatte, ihr zu helfen. Dann hat sie ihnen irgendetwas gesagt, und das hat sie so aufgebracht.”
„Warum fragst du sie nicht danach?”
Rhia blickte über das Feld zu den Zwillingen. Sie saßen allein, ohne Speise oder Trank. Lycas hatte das Gesicht zornig verzogen, und Nilo hatte seinen steinernen Blick auf den Boden vor sich gerichtet. Die Dorfschneiderin und ihr Mann näherten sich den Zwillingen, um ihr Beileid auszusprechen. Die Dorfbewohner erhielten ein höfliches Nicken, aber es wurde ihnen nichts erwidert, also eilten sie zurück zum Gelage, sobald es die Höflichkeit erlaubte.
Rhia wendete sich wieder Areas zu, der eine beschwichtigende Geste machte. „Sie scheinen gerade wirklich nicht ansprechbar zu sein”, sagte er.
„Areas, kann ich mit Rhia allein reden?”
Sie sah auf und erblickte Galen, der immer noch seine weiße Zeremonienrobe trug. Areas ging davon, nachdem er heimlich ihre Hand gedrückt hatte.
Der ältere Mann setzte sich neben sie. „Es tut mir leid. Ich hätte letzte Nacht bleiben sollen. Ich wollte deiner Familie etwas Zeit für sich allein geben, aber ...”
„Aber Ihr hättet Euch nicht auf mein Urteil verlassen dürfen.”
Seine Stimme klang, als trüge sie ein schweres Gewicht. „Unsere Gaben können sich umwölken, wenn wir sie auf jene richten, die wir lieben.”
„Darf ich dann niemanden heben, damit ich nicht versage, wenn er stirbt?”
Galen schüttelte den Kopf. „Du kannst lernen, deine Gefühle von deiner Magie zu trennen. Aber es würde bei einigen immer schwierig bleiben. Nicht unmöglich, bloß schwer.”
Rhia sah gen Osten, wo das sanfte Grün des Tales auf den großen Wald traf. „Ich wollte, dass Mutter noch einen weiteren Sonnenaufgang sieht. Das war ihre liebste Tageszeit.”
„Man sagt, die andere
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