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die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin

die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin

Titel: die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeri Smith-Ready
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Gegenwart dieser Stimmen war nichts zu sehen fast so schlimm, wie Monster zu sehen.
    Schließlich verschmolz der Chor zu einer einzigen klaren Stimme.
    WIR
    SIND...
    Auf der freien Stelle zwischen zwei Pinien, aus der Luft selbst, erschien ein kleines braunes Kaninchen – ein Junges, mit runden Ohren und kurzen Beinen. Rhia lächelte die Kreatur fast an, als sie bemerkte, dass seine Pfoten den Waldboden nicht berührten. Keine trockenen Blätter raschelten, als es sich auf sie zubewegte.
    Das kleine Kaninchen war etwa zehn Schritte entfernt, da setzte es sich auf die Hinterläufe, hob die Vorderbeine und verwandelte sich in einen Falken. Der Falke breitete seine Flügel aus und flog auf einen Zweig in der Nähe. Er hatte lautlos mit den Flügeln geflattert, und der Zweig neigte sich nicht unter seinem Gewicht. Dann wuchs er, Kopf und Schwanz wurden weiß. Er stieß den Schrei eines Adlers aus. Der Adler streckte die Flügel nach vorn aus, als wollte er den Ast umfassen, auf dem er saß, und verwandelte sich in ein Eichhörnchen, das den flauschigen Schwanz schüttelte.
    Weiter und weiter ging es, vom Eichhörnchen zum Rotfuchs zum Bär zur Biene zur Forelle, immer weiter, während der Tag voranschritt. Ein Wesen verschwamm in das andere, manche waren Rhia so unbekannt wie die Giraffe, bis sie sich an keines der Tiere mehr erinnern konnte, geschweige denn an alle.
    Als die Schatten länger wurden, formte sich vor ihr schließlich ein Tier aus Fell, Federn und Schuppen, fast halb so groß wie die Bäume. Es bestand aus jedem Tier, das sie je gesehen hatte, und vielen, die sie nicht erkannte. Hörner, Pfoten, Schwänze und Ohren standen in alle Richtungen hervor. Es schwebte wie eine Seifenblase über dem Waldboden.
    Bei dem Anblick blieb ihr der Mund offen stehen. Es war nicht grotesk, sondern vielmehr schön, eine Verschmelzung allen Lebens. Es war, als sähe man die ganze Welt an einem Ort.
    WIR SIND, sagte es, und sie wusste, es stimmte. Alles eins. Trennen und unterscheiden hieße, diese Wahrheit zu beschmutzen. Vor Ehrfurcht angesichts dieser Einfachheit und Komplexität des Lebens bekam Rhia Schmerzen, auch weil sie bedauerte, während ihres kurzen Daseins so viele Fehler gemacht zu haben.
    Der Körper des Jedes-Tiers schwoll an und verrenkte sich im schwächer werdenden Sonnenlicht. Als die letzten Strahlen über den Hügel fielen, begann die Kreatur zu zittern, erst kaum wahrnehmbar an den Rändern, dann immer machtvoller und p>von innen heraus. Es schien, als versuchte eine große Kraft aus ihr herauszubrechen.
    Als die Sonne unterging, platzte der Körper auf. Und aus seiner Mitte flog ein riesiger Rabe, leuchtend, schimmernd – in jeder Feder schimmerte jede Farbe, wie es in dem Augenblick gewesen sein musste, in dem die Welt geboren wurde.
    Rhia fiel auf die Knie, dann auf den Bauch. Sie hatte nie erwartet, Rabe zu begegnen. Die Twiga, der Drache, die Kreatur der Leere, das Jedes-Tier – keiner von ihnen hatte die Angst in ihr geweckt, die sie jetzt verspürte, da ihr die Erschafferin der Welt, die Bringerin des Lichts, der Geist der Geister, gegenüberstand. Sie hatte es gewagt, sie für einen Augenblick anzusehen, der sich bis in die Ewigkeit erstreckte. Welche Strafe würde diese Unverfrorenheit ausgleichen?
    Rabe flog über ihr. Das Rauschen ihrer enormen Flügel schuf eine Melodie, die Rhia mitten ins Herz stach. Der Geist umkreiste sie und landete dann vor Rhia, die am ganzen Körper zitterte.
    „Steh auf und sieh!”
    Rabes Stimme gehörte zu einer anderen Welt. Es war das Geräusch der Sterne, die am Nachthimmel flackerten, das Pulsieren der Sonnenstrahlen, des Windes, der den Sand des Mondes bewegte.
    Unsicher stand Rhia auf und starrte Rabe an. Bei ihrem Anblick fühlte sie sich lebendig, ruhig. Vollständig.
    „Du bist nicht vollständig”, sagte Rabe. „Noch nicht.” Dann war es also Zeit.
    „Bist du ... bist du mein ...”
    „Ich gehöre niemandem. Ich, meine Liebe, bin allen verpflichtet, die auf Erden wandeln. Ich erscheine bei jeder Wei-hung, um demjenigen seinen Geist vorzustellen.”
    Rhia senkte den Blick und schämte sich über ihre Anmaßung.
    „Du bist bereit.” Rabe breitete die Flügel aus. Sie wurde p>dunkler, bis alle Federn ein tiefdunkles Violett angenommen hatten. Ihr Schnabel wurde spitzer, und die Krause unter dem Hals glättete sich. Ihr Körper schrumpfte, bis sie nicht mehr größer war als Rhia.
    Bis sie überhaupt nicht mehr sie war.
    Er war es.
    Krähe.

13.

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