die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Abendessen eingeladen. Auch wenn wir ihn nicht sehen würden.”
„Hat er Nein gesagt?”
„Er hat gesagt, dass er müde ist. Dabei sah er gar nicht müde aus.”
Rhia seufzte. „Er geht mir aus dem Weg. Ich glaube, es ist wegen Coranna, aber ich verstehe nicht, warum.”
Alanka blickte über die Schulter zu den anderen und senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Marek hat an dir nichts auszusetzen. Er ist ein treuer Mensch, und ein paar Tage lang wird seine Treue gespalten sein.”
„Warum?”
Sie verzog das Gesicht vor Schmerz, den ihr das Bewahren eines Geheimnisses bereitete. „Coranna wird es dir erzählen, wenn sie die Zeit für richtig hält. Bis dahin musst du ihr vertrauen.” Sie drückte Rhia einen Becher Meloxa-Tee in die Hand. „Und dich amüsieren.”
„Ist das Abendessen fertig?”, rief Razvin durch den Raum.
Rhia hatte ihn, seit sie angekommen war, kaum angesehen. Sich vorzustellen, dass der Mann, der ihrer Mutter so viel Leid bereitet hatte, in Alanka so viel Verehrung weckte, verursachte ihr Unbehagen – aber vielleicht hatte er sich über die Jahre verändert. Ihre Brüder waren jetzt dreiundzwanzig. In zwei Jahrzehnten konnte ein Mann – selbst ein Fuchs – wohl lernen, treu zu sein.
Sie setzten sich um den Tisch wie eine Familie – die jungen Frauen auf einer Seite, Razvin und Coranna auf der anderen, Vater und Tochter sich gegenüber. Rhia war erleichtert, so weit entfernt von Razvin zu sitzen wie möglich.
Das Essen war köstlich und half ihr, sich von der Spannung abzulenken, die immer weiter in ihr wuchs. Sie nahm einen zögerlichen Schluck von ihrem Meloxa-Tee. Überraschenderweise war er viel verträglicher als das Gebräu, das Marek ihr im Wald vorgesetzt hatte. Was nicht viel heißen sollte, nur dass sie sich nicht gezwungen sah, es auf den Boden zu spucken. Alanka musste den Tee gesüßt haben, um dem Geschmack nach sauren Äpfeln entgegenzuwirken.
Razvin erzählte einen Witz. Sie verstand, warum ihre Mutter ihn anziehend gefunden hatte. Seine belebte Art zu sprechen, das schelmische Funkeln in seinen Augen, selbst die Art, wie er seinen Kopf neigte, wenn er eine Pointe erzählte – das alles konnte jemanden, der es nicht besser wusste, leicht verzaubern.
Alle brachen in Gelächter aus, nur Rhia nicht.
Mit dem Ellenbogen stupste Alanka sie an. „Ich erkläre es dir. Pass auf, Maus denkt, der Falke will ihm ein Geschenk machen, aber in Wirklichkeit ...”
„Ruinier die Geschichte nicht durch Erklärungen, Alanka”, wies Razvin sie zurecht. „Rhia ist nur müde nach ihrer Reise mit Marek. Ich bezweifle, dass sie viel geschlafen haben.” Er und seine Tochter lachten gemeinsam.
„Eigentlich war ich abgelenkt, weil ich an meine tote Mutter gedacht habe”, platzte es da aus Rhia heraus.
Die anderen drei verstummten. Razvin senkte den Blick auf seinen Teller und schien durch ihn hindurch auf den Boden zu starren. Corannas Gesicht zeigte keine Regung, sie schien damit zufrieden, zuzusehen, wie das Drama sich entfaltete.
„Oh Rhia”, sagte Alanka. „Ich konnte an deinen Haaren sehen, dass du jemanden verloren hast, aber deine Mutter – ich weiß, wie das ist. Meine ist gestorben, als ich acht Jahre alt war. Es war schrecklich. Ich kann mir nicht vorstellen, auch Vater zu verlieren.”
„Auch mir tut es leid”, flüsterte Razvin durch das Geplapper seiner Tochter hindurch, „Mayra war eine gute Frau.”
„Wer ist Mayra?” Alanka sah verwirrt zwischen ihnen hin und her. „Vater, hast du sie gekannt?”
„Wenn sie eine gute Frau war”, wollte Rhia wissen, „warum habt Ihr sie dann verlassen?”
„Das habe ich nicht ...”
„Sie hatte Zwillinge, habt Ihr das gewusst? Meine Brüder.” „Warte ...”, sagte Alanka.
„Das nur der Form halber”, erklärte Razvin, „ich habe sie nicht verlassen. Nicht aus freien Stücken. Ich wurde aus Asermos verjagt, abgelehnt, weil ich Kalindonier bin und nicht gut genug für eine ihrer Frauen.” Seine Stimme klang jetzt fast wie ein Fauchen, ehe er sich wieder unter Kontrolle hatte. „Ich bin freiwillig gegangen, weil ich deiner Mutter nicht noch mehr Schmerz und Scham bereiten wollte.”
„Was könnte ihr mehr Schmerz und Scham bereiten, als mit zwei Kindern verlassen zu werden?” Der Meloxa hatte ihre Zunge gelöst, und sie war dankbar darum. „Warum habt Ihr sie nicht mitgenommen?”
„Sie wäre nicht gekommen.”
„Habt Ihr sie gefragt?”
Er wartete einen langen Augenblick, ehe er sagte:
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