die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
zuzuhalten, bemerkte sie, dass die Wolke aus Krähen bestand -Hunderten, vielleicht Tausenden.
Krähen, die direkt auf sie zuflogen.
Sie sollte die Vögel willkommen heißen – es waren immerhin ihre Brüder und Schwestern -, und doch wusste sie, dass sie gekommen waren, um sie auf die andere Seite zu holen. Kein Mensch stand neben ihr, sie zu grüßen oder zu leiten, und die Vögel hatten keine Seelen, die sie erspüren konnte.
Rhia drehte sich um, sie wollte rennen, nicht fliehen, denn das war unmöglich, aber ihr Leben, wenn auch nur für ein paar schreckerfüllte Augenblicke, verlängern. Alles war besser als jetzt, in diesem Moment, geholt zu werden.
Bei ihrem dritten Schritt waren die Krähen vor ihr, kamen von der anderen Seite. Sie drehte sich um, und auch von dort flogen sie herbei. Aus jeder Richtung stob der Schwärm näher auf sie zu.
Sie waren jetzt nahe genug, dass Rhia jeden schlagenden Flügel erkennen konnte, der im dumpfen Licht tiefschwarz aussah. Ihre Schnäbel öffneten sich zu ständigen Schreien und gaben wütende rote Kehlen frei, die sie im Ganzen verschlingen konnten.
Mit unerschütterlicher Ruhe hob sie dem bedrohlichen Schwärm eine Handfläche entgegen.
„Nein.”
Ihre Augen öffneten sich der Dunkelheit. Der Wind flüsterte in den Bäumen und ersetzte damit das Kreischen der Krähen. Aus neugeborener Gewohnheit streckte sie die Hand nach Marek aus, ehe das Knarzen der Holzwände sie daran erinnerte, wo sie schlief. Hinter ihr schnarchte Coranna leise.
Der Baum umfasste sie, wiegte sie zurück in den Schlaf, aber sie kämpfte darum, wach zu bleiben und ihren Traum zu deuten.
War es der eigene Tod, den sie gesehen hatte, oder der von anderen? Vielleicht stand jede Krähe für einen anderen Tod -einen Krieg? Hatte ihr Befehl die Schlacht verhindert? Konnte sie den Tod zurückhalten?
Sie wünschte sich, ihr Vater wäre bei ihr, um ihren Traum zu deuten. Aber sie war jetzt allein und konnte nicht jedes Mal zu Papa rennen, wenn sie etwas verwirrte oder ängstigte.
Rhia drehte sich um und horchte auf das schwache Knarren der Äste im Wind. Als sie wach gewesen war und sich bewegt hatte, hatte sie nicht bemerkt, wie sehr das Baumhaus schwankte, aber jetzt, da sie im Bett lag und das sanfte Wiegen spürte, verstand sie, warum Kalindonier es bevorzugten, in den Bäumen zu leben, statt unter ihnen. Es war unmöglich, zu vergessen, dass man Teil des Waldes war, so auf ihn angewiesen, um zu überleben, wie auf die Luft zum Atmen.
Schläfrig eingelullt, vergaß Rhia den Wunsch, das eben Erlebte sofort verstehen zu wollen. Die Bedeutung wird sich mir zur rechten Zeit erschließen, dachte sie und schlüpfte wieder durch den Vorhang des Schlafes.
Am nächsten Morgen erwachte Rhia erfrischt, erstaunt darüber, dass der Meloxa ihr keinen schweren Kopf beschert hatte, wie einige Krüge asermonisches Bier es mit Sicherheit getan hätten. Vielleicht war im Tee eine Substanz, die der giftigen Wirkung des Gebräus entgegenwirkte.
Coranna erwachte langsam und mürrisch und äußerte ihr Missfallen gegenüber „Lerchen”, was, wie Rhia annahm, wohl „Frühaufsteher” bedeutete. Die Laune der älteren Frau besserte sich, als sie das Frühstück probierte, woraufhin sie mitteilte, dass Rhia Kochen zu ihren weiteren Vorzügen hinzuzählen durfte.
Nach dem Frühstück sammelten sie Wurzeln für Corannas Pulver. Während sie durch den feuchten Wald schlenderten, zählte Coranna die praktischen Aspekte daran auf, eine Krähenfrau zu sein.
„Offensichtlich stirbt nicht jeden Tag jemand, nicht einmal in Kalindos, also habe ich noch andere Pflichten. Ich sitze als gewähltes Mitglied im Dorfrat und diene als Richter, als Schlichter in Streitfragen. Das ist für Krähen nicht außergewöhnlich, wir haben eine natürliche Begabung dafür, leidenschaftslos objektiv zu sein.”
Rhia fügte das den anderen Fähigkeiten hinzu, die sie noch entwickeln musste. Mehr als eine Person hatte ihr schon vorgeworfen, voreilige Schlüsse zu ziehen, was eine Eigenschaft war, die sich unter Richtern nur selten fand.
„Außerdem”, fuhr Coranna fort, „müssen wir uns nie Gedanken um unser Essen machen. Die anderen Dorfbewohner kümmern sich um uns, als Dank für unsere Dienste. Ich esse alles, aber wenn du irgendwelche besonderen Vorlieben oder Abneigungen hast, lass es Marek wissen.”
Fast erwiderte Rhia: Marek weiß, was ich mag, ließ es aber vorsichtshalber sein. Sie konnte noch nicht mit Sicherheit sagen,
Weitere Kostenlose Bücher