Die Sehnsucht der Konkubine
eine Schlange winden. Ohne ein Wort und ohne einen Blick zu dem russischen Ehepaar verließ sie das Zimmer. Die Schlange drehte und krümmte sich in ihr, glitt langsam durch den Magen in ihre Kehle hoch, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
»Lydia Iwanowa, du bist festgenommen.«
Lydia fuhr zu dem Sprecher dieser Worte herum. Ihr Herz raste. Ein flachsblonder Wuschelkopf und das breite Grinsen eines Jungen blickten ihr entgegen. Selbst dem Hund, den er sich in einem kleinen Sack auf die Brust gebunden hatte, hing die rosa Zunge aus der Schnauze, als würde er lachen.
»Du Mistkerl«, stöhnte sie und versuchte, Edik das Ohr langzuziehen, doch er wich ihr leichtfüßig aus und tänzelte auf den Zehenspitzen vor ihr.
»Was machst du hier?«, fragte er.
»Ich hab frische Luft gebraucht. Deshalb hab ich mir mal den Kreml angeschaut.«
»Wieso?«
»Ich wollte den Platz sehen, wo alle Entscheidungen getroffen werden. Wo jemand einfach meinen Namen auf ein Blatt Papier schreiben und über meine Zukunft entscheiden kann.« Ein beißender Wind erhob sich vom Fluss, und sie zuckte mit den Achseln. »Ob ich lebe oder sterbe.«
Sie gingen auf einem kleinen Trampelpfad am Ufer der Moskwa entlang, direkt über ihnen ragten die roten Mauern des Kreml empor. Die Mauern bildeten einen schweren und bedrohlichen Schatten, und ihre Zinnen waren wie Zähne, die jeden Moment zubeißen können. Lydia legte den Kopf in den Nacken und betrachtete nachdenklich das Bauwerk. »Weißt du, was ich denke, Edik? Ich finde, diese Festung hier ist wie eine giftige Spinne, die in ihrem Netz Moskau sitzt, und ich fühle mich, als wäre ich in ihrem klebrigen Bau gefangen. Wenn ich mich bewege, wird die Spinne nach mir schnappen.«
Der Junge starrte sie einen Moment lang an und brach dann in Gelächter aus. Er machte eine schneidende Handbewegung. »Das mach ich mit Spinnennetzen. Sie wegwischen. Es ist leicht.«
Lydia lachte. »Ich beneide dich, Edik.«
»Warum?«
»Weil du das Leben schwarz-weiß siehst. Kein Grau.«
»Ist das falsch?«
»Nein. Ich weiß noch, dass ich sie vor nicht allzu langer Zeit auch so gesehen habe.«
»Und?«
Sie verwuschelte ihm das Haar, doch er wand sich aus ihrer Hand heraus und hüpfte ein paar Schritte rückwärts, so dass sie sich ansehen konnten. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass die graue Tönung seiner Haut verschwunden war und seine Wangenknochen ihre scharfen Kanten verloren hatten. Langsam zeigten die Wurst, der Schinken und der warme Mantel Wirkung.
»Dann bleib dabei. Das macht das Leben einfacher.«
Der Junge verzog das Gesicht. Er verstand sie nicht. Und warum sollte er auch? Sie war sich ja selbst nicht sicher, ob sie es verstand. Doch er hatte noch das ganze Leben vor sich, um herauszufinden, was sie meinte. Sie schnitt ebenfalls ein Gesicht für ihn. Ihm gegenüber fühlte sie sich mit ihren gerade mal siebzehn Jahren uralt. Sie holte aus ihrer Manteltasche eines der leckeren Törtchen mit der Zuckerkirsche, die es zuvor zum Kaffee gegeben hatte.
»Schau mal, Misty. Ich hab dir was mitgebracht.«
Es war eigentlich als Leckerei für Edik gedacht gewesen, doch bei ihm kam der Hund immer zuerst. Der Welpe zappelte und wand sich, um sich aus dem Sack zu befreien, und so setzte der Junge den kleinen Hund auf dem Weg ab. Seine grauen Ohren wurden bei dem starken Wind sofort zu flatternden Flügeln.
»Jeder die Hälfte«, beharrte sie, als sie Edik das Törtchen reichte.
Er ging in die Knie, biss ein kleines Stück ab und ließ es so lange über dem kleinen Kopf des Tieres baumeln, bis der Hund auf den spindeldürren Hinterläufen tänzelte.
»Ich bringe ihm ein paar Tricks bei, schau mal. Damit können wir Geld verdienen.«
»Gute Idee.«
Tricks. Gegen Geld. Genau das hatte sie früher auch getan. In China war sie davon überzeugt gewesen, das sei die Lösung. Doch jetzt? Wieder zuckte sie mit den Achseln und war sich der Kremlmauern deutlich bewusst. Trotz aller schwarzen Schatten sah sie mittlerweile viel klarer.
»Und was führen Misty und du hier im Schilde?«
Er konzentrierte sich immer noch darauf, den Hund auf den Hinterbeinen zu halten. »Wir haben dich gesucht.«
»Wieso mich?«
»Ich hab eine Nachricht für dich.«
Sie packte eins von Ediks Ohren so fest, dass er aufjaulte. »Und wann genau hattest du vor, mir diese Nachricht zu übermitteln?«
»Jetzt«, sagte er mit einem mürrischen Stirnrunzeln. Sie ließ ihn los.
»Und?«
Der Junge kniff die Augen
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