Die Sehnsucht der Konkubine
nicht wissen.«
»Wie bitte? Ist der Ort, an dem wir heute vorbeigegangen sind, etwa ein Ort, an dem es sich zu leben lohnt? Mir kam das Gefängnis mehr wie eine Gruft vor.«
»Was hast du also vor?«
»Kontakt zu ihm aufzunehmen. Irgendwie. Fürs Erste ist das alles.«
»Und dann?«
In dem Moment hatte sie sich von ihm entfernt, sich an einen Platz tief in ihrem Inneren zurückgezogen, wo er sie nicht erreichen konnte. Doch seine Finger fuhren mit dem Flechten fort, und auf einmal stand ein Bild von ihr vor seinem inneren Auge, wie sie an einem kleinen Strand in China stand und auf das sonnenbeschienene Wasser hinausblickte, während jeder Zoll von ihr sich danach sehnte, in die Strömung hinauszugehen, die sie in die Zukunft tragen würde. Was war mit ihr geschehen? Er senkte den Kopf, bis er fast das kleine Dreieck ihrer Schulterblätter berührte, und sog tief den Duft ihrer Haut ein. Sie roch genau wie früher, eine betörende Mischung aus zartem Jasmin und dem würzigen Moschusduft eines wilden Tieres. Doch wo war sein Fuchsmädchen abgeblieben? Ganz sanft schlang er die Arme um sie, zog ihren Rücken an seine bloße Brust, und die Hitze, die von ihrem Körper ausging, überraschte ihn.
»Chang«, sagte sie, und die Traurigkeit in ihrer Stimme traf ihn wie eine Ohrfeige. »Was werden wir tun, du und ich?«
»Mein Liebes, du kannst der Zukunft nicht aus dem Weg gehen, indem du der Vergangenheit hinterherjagst.«
Sie fuhr im Schutze seiner Arme zu ihm herum und schaute ihm mit ihren lohfarbenen Augen ins Gesicht. »Glaubst du wirklich, darum geht es?«
»Ich glaube, du hast Angst vor dem, was die Zukunft dir bringen könnte, uns bringen könnte, weshalb du versuchst, dir aus der Vergangenheit eine Zukunft zu bauen.«
»Und Jens Friis ist meine Vergangenheit?«
»Ja.«
Ganz langsam schüttelte sie den Kopf, und die Enden der Zopfbänder kitzelten ihn an der Wange. »Du verstehst nicht«, sagte sie. »Du verstehst gar nichts.«
Ihre Worte taten ihm weh, als meißelten sie ein kleines Loch in seine Brust. Er hob die Hände und legte sie zärtlich um ihr Gesicht. »Schau nur, was du da in deinem Haar trägst. Die Bänder meine ich.«
Es dauerte einen Moment. Doch das Lächeln kam. »Rote Bänder«, sagte sie.
»Und Rot steht für Glück.«
Es war dunkel, und es regnete. Winzige Eispartikel pieksten ihn wie Nadelspitzen in den Nacken. Jens zog seine Mütze tiefer über sein Gesicht und klappte den Kragen höher, um seine Ohren besser zu bedecken. Leibesertüchtigung um halb sieben Uhr an einem düsteren, elenden Morgen brachte nicht gerade das Beste in den Menschen zum Vorschein. Sie brummten sich gegenseitig an, murrten über die Wärter, das Wetter, doch am meisten über Oberst Tursenow.
»Sadistische Scheiße ist das hier.«
»Liegt bestimmt noch mit dem Arsch im Bett.«
»Oder verzehrt genüsslich seine Frühstückseier mit Speck. Warme weiße Brötchen und heiße Schokolade.«
»Hoffentlich bleibt es ihm im Halse stecken und er verreckt, der elende Scheißkerl.«
Es war Tursenow gewesen, der auf eine halbe Stunde Frühsport für die Gefangenen bestanden hatte, weshalb sie jeden Morgen vor Arbeitsbeginn ihre Runden im Gefängnishof drehten, und jeden Abend danach ebenso, bevor das Abendbrot verteilt wurde. Ob Regen, Wind oder Schnee, es machte keinen Unterschied. Das Flutlicht war eingeschaltet, und Hunde und bewaffnete Wachposten ließen sie keinen Moment aus den Augen, während sie hinter einem Maschendrahtzaun im Gänsemarsch ihre Runden drehten, ein jeder exakt vier Schritte hinter dem anderen. Schweigend.
Heute war es unangenehm. Doch es hatte noch schlimmere Tage gegeben, viel schlimmere, wenn sie zur Arbeit in die sibirischen Hochwäldern marschieren mussten. Stunden um Stunden waren sie durch Schnee und blendende Helligkeit zu den Arbeitszonen getaumelt. Und so kam Jens gar nicht in Versuchung, sich zu beklagen oder sich zu feindseligen Äußerungen hinreißen zu lassen. Was ihm wirklich Sorgen bereitete, war, dass auch Olga hier draußen im Regen marschieren musste. Er blickte hinüber zu ihrer durchnässten, gebeugten Gestalt, die weiter vorne im Kreis entlangging. Sie schlurfte, als wären ihre Schuhe mit dem Blei gefüllt, das sie früher in ihrer Mine gefördert hatte. Ihre Beine waren so dünn wie Nadeln. Und sie hustete. Das Geräusch rauen Hustens machte ihn nervös. Er hatte schon zu viele sterben gesehen, hatte erlebt, wie Lungen durch hartnäckigen Husten Risse bekamen und
Weitere Kostenlose Bücher