Die Sehnsucht der Konkubine
Während er unsanft auf den Boden fiel, schien er das Tablett in Richtung Zaun zu werfen. Dutzende von weißen Brötchen flogen in Richtung Gefangene. Heuschrecken hätten nicht schneller sein können; flink schossen Finger durch die Löcher im Zaun, und die Brötchen waren verschwunden.
»Ihr verdammten Diebe, gebt mir meine Brötchen wieder!«, schrie der Junge. Dabei trat er so heftig gegen den Metallzaun, der sie von ihm trennte, dass er rasselte, und die Männer von drinnen grinsten ihn hämisch an. Selbst die Wärter lachten über sein komisches Wüten.
»Ich zeig euch alle an«, rief er. »Ich lass euch erschießen.« Der wütende Junge riss sich die Mütze vom Kopf und schleuderte sie gegen den Zaun, wo sie in einer Pfütze liegen blieb. Sein flachsblondes Haar war durch den Regen an sein schmales Gesicht geklatscht, und es schien, als liefen ihm Tränen über die Wangen.
»Ich werd meine Arbeit verlieren!«, schluchzte er.
»Hier, mein Junge.« Jens näherte sich dem Zaun. »Mein Brötchen kannst du zurückhaben.« Er schob das Gebäckstück durch den Maschendraht, und der Junge griff gierig danach.
»Spassibo.«
»Pass auf, da kommt dein Chef.«
Der Junge blickte ängstlich über seine Schulter und wandte sich dann wieder Jens zu. »Spassibo« , wiederholte er. »Du kannst das stattdessen essen.« Aus seiner Tasche zog er eine dicke Scheibe Schwarzbrot. »Das ist mein Frühstück.« Er klappte das Brot zusammen, schob es durch den Zaun und legte es in Jens’ Hand.
»Jetzt aber mal langsam hier!«, rief einer der Wärter und legte mit seinem Gewehr auf sie an. »Geschenkt wird hier nichts!« Doch Jens biss voller Genuss in das Brot.
»Du wirst mir doch wohl einen Mund voll chleb gönnen, oder? Ich glaube, dein Oberst Tursenow hätte da auch ein Wörtchen dazu zu sagen.«
»Was geht hier vor?« Der Bäcker kam durch das Halbdunkel des Hofes auf sie zu. »Komm sofort hier rüber, du verdammtes Stück Hundescheiße. Wo sind meine Brötchen geblieben?«
Der Junge huschte umher, sammelte all die Brötchen ein, die für die Gefangenen außer Reichweite waren, und legte sie auf das Blech zurück, doch selbst bei dem schummrigen Licht sahen sie nass und schmuddelig aus. Der Bäcker schnappte sich das Tablett und versetzte dem Jungen einen Faustschlag, der ihn zu Boden warf, so dass er mit dem Hinterkopf auf das Pflaster fiel. Dort rollte er sich zusammen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und heulte laut auf. Seine Schultern zitterten.
»Lass den Jungen in Ruhe«, rief Jens.
»Halt die Klappe, Gefangener. Das geht dich einen Dreck an. Dieser kleine Scheißkerl hat mir das Geschäft vermasselt.« Der Bäcker marschierte zu seinem Karren zurück und holte ein weiteres Tablett herunter.
Ein Wärter trat nach vorne. »Jetzt bewegt euch, ihr faules Pack. Das Unterhaltungsprogramm ist beendet.«
Etwas peinlich berührt davon, was sie mit ihrer Gier angerichtet hatten, nahmen die Gefangenen ihre monotone Runde wieder auf. Jens verließ den Zaun als Letzter.
»Junge!«, rief er. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Mit mir? Ja.« Ein hellblaues Auge zwinkerte Jens zwischen den vorgehaltenen Händen hindurch zu.
»Siehst du die Bank da drüben?«
»Ja.«
»Wenn dir schwindelig ist, setz dich doch dort ein paar Minuten hin.« Jens richtete seinen Blick fest auf den Jungen. »Manchmal sitzen wir dort, wenn wir auf den Lastwagen warten.«
Ein schlaues Grinsen stahl sich in das Gesicht. Er hatte verstanden.
»Geh da rüber«, tönte die Stimme des Bäckers durch die stille Morgenluft, »und trag die Tabletts ordentlich, du nutzloses Stück Hundescheiße.«
Der Junge sprang auf, hob seine Mütze auf und flitzte ohne einen Blick zurück an die Arbeit.
Mein liebster Papa.
Jens konnte nicht weiterlesen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Mein liebster Papa. So viele Jahre war es her, seit er diese Worte gehört hatte. Er legte sich auf sein Bett und stellte sich seine Tochter vor, ihr kupferfarbenes Haar, das in einem St. Petersburger Park in der Sonne leuchtete.
Er versuchte es noch einmal.
Mein liebster Papa,
eine kurze Nachricht, zusammengedrückt in einer Scheibe Brot. Keine schöne Art, Dich nach zwölf langen Jahren zu grüßen. Und so werde ich über das schreiben, was am wichtigsten ist. Ich habe Dich vermisst und niemals aufgehört, an Dich zu denken. Mama hat immer gesagt, ich erinnerte sie an Dich, jedes Mal, wenn sie mich anschaute. Es tut mir leid, Papa, aber ich muss Dir mitteilen, dass
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