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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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Mama letztes Jahre bei einem Unfall in China ums Leben gekommen ist …
    Der Zettel zitterte in seiner Hand, und die Worte verschwammen vor seinen Augen. Nein, Valentina, nein. Warum hast du nicht auf mich gewartet? Wie viele Lügen auch immer ich mir eingeredet habe, aber stets habe ich daran geglaubt, dich eines Tages wiederzusehen, ganz gleich … Zorn zerriss ihm die Brust, er zerrte an seinen Atemwegen, so dass er keine Luft mehr bekam. Wut auf das System, das ihn grundlos eingekerkert hatte, Zorn auf all die elenden, verschwendeten Jahre, auf denjenigen, der ihm seine Frau geraubt hatte, wer auch immer es war.
    Er drückte seine Stirn auf den Zettel, als könnten die Worte so in seinen Kopf übergehen. Lange Zeit verweilte er so. Bilder stürmten auf ihn ein, Bilder, die er vorher nicht gewagt hatte heraufzubeschwören, aus Angst, sie könnten das zerbrechliche Gerüst, das seine Welt aufrechterhielt, zertrümmern. Das Deckenlicht in den Zellen der Gefangenen wurde selbst bei Nacht niemals ausgeschaltet, um die Überwachung zu vereinfachen, und so ließ er eine Stunde verstreichen, und noch eine, und stand schließlich auf, bespritzte sich die brennenden Wangen mit Wasser aus der Schüssel in der Ecke und wagte noch einen Versuch.
    Mein liebster Papa,
    eine kurze Nachricht, zusammendrückt in einer Scheibe Brot. Keine schöne Art, Dich nach zwölf langen Jahren zu grüßen. Und so werde ich über das schreiben, was am wichtigsten ist. Ich habe Dich vermisst und niemals aufgehört, an Dich zu denken. Mama hat immer gesagt, ich erinnerte sie an Dich, jedes Mal, wenn sie mich anschaute. Es tut mir leid, Papa, aber ich muss Dir mitteilen, dass Mama letztes Jahr bei einem Unfall in China ums Leben gekommen ist. Sie hat mir einen Brief hinterlassen, in dem sie mir schrieb, du seist am Leben. Ich habe China verlassen und mich auf Deine Spuren begeben, zunächst im Lager von Trowitsk und dann hier in Moskau. Alexej Serow und Liew Popkow sind bei mir. Ich weiß, dass es gefährlich ist, auf diese Weise mit Dir zu kommunizieren, und ich habe Angst um Dich. Doch wenn Du etwas schreiben kannst – irgendwie – wird der Junge morgen zurück sein.
    Deine Dich immer liebende Tochter Lydia
    Jens las die Nachricht wieder. Und wieder und wieder. Er ging in seiner Zelle auf und ab, sog ihre Worte in sich auf und studierte genau den kühnen Schwung ihrer Handschrift, bis er jedes Komma und jeden Buchstaben auswendig kannte. Dann zerriss er den Brief in winzige Stücke und legte sie sich auf die Zunge.
    »Hast du es Alexej gesagt?«, wollte Popkow wissen.
    Lydia schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Ha!«
    In der Bäckerei war es so warm wie an einem Sommertag, und die Hitze von den Öfen beschlug das Fenster so sehr, dass Lydia nur mit Mühe hinausschauen konnte. Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen, ließ die Straße keinen Moment lang aus den Augen, auf der Suche nach dem Karren. Ihre Nerven lagen blank. Hinter ihr stand Liew an die Wand gelehnt, einen Laib saftiges Schwarzbrot unter den Arm geklemmt, von dem er sich gelegentlich Brocken abriss und in den Mund steckte. Tschort! Wie konnte er nur essen? Ihr eigener Magen begehrte heftig auf.
    Dann endlich tönte das träge Klappern von Pferdehufen durch die dunkle Straße, und Sekunden später platzte der Junge in die Bäckerei, ein breites Grinsen und einen großen blauen Fleck auf dem Gesicht. Sie packte ihn an den knochigen Schultern und umarmte ihn so fest, dass er aufjaulte. Selbst Popkow verwuschelte ihm aus Erleichterung den flachsblonden Schopf.
    Lydia ging zum Tresen hinüber, wo der Bäcker wartete, und legte Antoninas goldenes Armband darauf.
    »Das habt ihr gut gemacht«, sagte sie.
    »Was für einen Preis zahlt man für einen Vater, Alexej?«, wollte Lydia wissen.
    Sie gingen Seite an Seite die Uliza Granowski in der Nähe der Universität entlang, so wie sie vor gar nicht so vielen Monaten durch die Straßen von Felanka geschlendert waren. Doch nichts war mehr so einfach zwischen ihnen wie damals. Alexej bestand darauf, sich in Moskau eine eigene Unterkunft zu suchen, und obwohl der Regen nachgelassen hatte, gingen sie schnell, als könnten sie den dunklen Schatten davonlaufen, die sie hinter sich warfen.
    »Was meinst du?«, fragte Alexej.
    »Ich meine, bist du wirklich so erpicht darauf, dir einen neuen Vater zu kaufen? Einen, der dich mit falschen Papieren versorgt, sobald du ihn darum bittest, und der dir dafür auf Schritt und Tritt sagt, was du zu tun

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