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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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die Menschen einen elenden Tod starben. Wenn sie bloß mehr essen würde.
    Aß Lydia denn?
    Der Gedanke war ihm ganz unvermittelt gekommen. Das passierte hin und wieder. Wenn er sich zum Beispiel einen Löffel heißen Eintopf in den Mund schob, hielt er einen Moment lang inne und fragte sich, ob sie wohl gerade einen Brocken trockenes Brot verzehrte, und wenn er sich bei Nacht unter seine warmen Decken kuschelte, dann stellte er sich vor, sie friere und zittere vor Kälte. Und wenn es regnete, so wie jetzt, kam die Frage in ihm auf, ob sie wohl auch nass war. Und träumte sie ebenso von ihm wie er von ihr?
    Er sehnte sich so sehr danach, mehr zu erfahren. Von seiner Frau Valentina hatte der Chinese nichts gesagt. Von seiner geliebten Valentina. War auch sie den Bolschewiken entkommen? Bitte, lieber Gott, dachte er, lass sie noch am Leben sein, irgendwo, wo sie in Sicherheit ist und es warm hat, wo sie vielleicht ganz dick und faul geworden ist, wenn sie das möchte. Oder war sie mit Lydia hier in Moskau? In diesem kalten und feuchten Gefängnishof war seine Erinnerung plötzlich erfüllt vom samtigen Schimmer ihres dunklen Haares, das er ihr so gern jeden Abend vor dem Schlafengehen gebürstet hatte, und von einem Gesicht, das so schön gewesen war, dass kein Mann den Blick davon abwenden konnte. Bist du hier, Valentina? Bist du nach Russland heimgekehrt? Jemanden, der so voller Lebensfreude war wie sie, konnte er sich in dieser drögen neuen Welt der Sowjets einfach nicht vorstellen.
    Ein Geräusch wie das Krachen einer Höllenmaschine durchbrach seine Gedanken. Es war das Quietschen der Metalltore. Jens’ Aufmerksamkeit war sofort geweckt.
    Achten Sie darauf, ob jemand Kontakt mit Ihnen aufnimmt.
    So hatte es auf dem Zettel gestanden. Doch auf dem lauten Quietschen der Angeln folgte nur Hufgeklapper, als der Pferdewagen des Bäckers in den Hof rollte. Er kam jeden Morgen um diese Zeit, mit Blechen voller Brote und Brötchen, war jedoch durch den Metallzaun, der mitten durch den Gefängnishof verlief und den Frühsportbereich abteilte, sorgfältig von den Gefangenen getrennt. Niemand schenkte dem Karren besondere Aufmerksamkeit, nicht einmal die Wärter. Nur die Hunde zeigten Interesse und zerrten gierig an den Leinen, wenn der Geruch von frischem Hefegebäck durch die Luft zog.
    Achten Sie darauf.
    Jens schob seine Füße über die vom Regen glitschigen Pflastersteine und warf einen Seitenblick auf das alte Pferd, das einen schiefen Rücken hatte und schläfrig wirkte. Und auf den Jungen, der neben seinem Kopf stand und es am Zaumzeug hielt. Irgendwo in seinem Kopf machte es Klick. Als hätte jemand einen Rollladen hochgezogen und Licht hereingelassen. Der Junge war neu.
    Der Bäcker war derselbe wie immer. Hier gab es keine Veränderung, weder an der weißen Schürze noch der mehlbestäubten Leinenjacke. Der Mann hob ein breites Blech mit Brotlaiben, die zum Schutz gegen den Regen mit Wachspapier bedeckt waren, von der Ladefläche des Karrens und legte es sich auf die Schulter. Wie immer wünschte er den Gefangenen durch den Maschendrahtzaun mit tiefer Bassstimme »Dobroje utro« und verschwand durch einen Seiteneingang im Gebäude. Der Junge begann zu pfeifen, eine laute, fröhliche Melodie. Was war das nur gleich für ein Lied? Jens ging weiter, doch seine Augen ruhten dabei auf dem Jungen in dem marineblauen Mantel, der viel zu groß für seinen mageren Körper war. Ein dunkler Hut mit breiter Krempe verbarg den größten Teil seines Gesichts, so dass Jens beim grellen Schein der Flutlichter nur die hohlen Wangen und die zum Pfeifen gespitzten Lippen erkennen konnte.
    Jens pfiff zurück.
    »Ruhe!« Der Befehl kam von einem der Wärter.
    Jens hörte auf zu pfeifen. Als er zu dem Bäckerkarren zurückblickte, sah er, wie der Junge ein großes Tablett mit Brötchen von der Ladefläche holte und es sich zum Tragen auf den Kopf hob, wo es seine Mütze plattdrückte. Er musste die Arme weit ausbreiten, um es festzuhalten. Jens hatte beim Marschieren gerade die Stelle des Kreises erreicht, die dem Maschendrahtzaun am nächsten lag, und wurde langsamer.
    »Weitergehen«, brummte der Mann hinter ihm.
    Der Junge war schnell. Bevor der Bäcker wieder herauskam, taumelte er ein paar unsichere Schritte weit über die nassen, unebenen Pflastersteine, stolperte plötzlich, fing sich wieder, drehte sich um die eigene Achse, um das Tablett nicht fallen zu lassen, verlor dabei aber endgültig den Boden unter den Füßen.

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