Die Sehnsucht der Konkubine
und was zu lassen hast? Ist das die Art von Vater, die du dir wünschst?«
Ohne seine Schritte zu verlangsamen, drehte Alexej den Kopf und sah sie einen Moment lang an. »Hier geht es gar nicht um Väter, stimmt’s?«, sagte er leise. »Es geht um Schwestern.«
Lydia senkte den Blick. Sie verweigerte ihm die Zustimmung.
»Du musst verstehen, Lydia, dass Maxim Woschtschinski meine Chance ist, Jens zu erreichen. Es hat nichts damit zu tun, den Vater zu wechseln. Oder«, er hielt inne, und der Wind fuhr in seinen Mantel, ließ ihn um seine Beine flattern, »oder mit Schwestern.«
»Aber du magst diesen Maxim.«
»Ja, ich mag ihn. Er ist schlau, er ist kompliziert.« Alexej zuckte im Gehen mit den Achseln. »Und er ist amüsant.«
»Er mag mich nicht.«
»Na und? Ich mag dich.«
Sie schaute ihm direkt ins Gesicht. »Dann ist es ja gut.«
SECHSUNDVIERZIG
D er Mond war aufgegangen und kämpfte sich hinter den Wolken hervor. Er übergoss den kleinen, stillen Raum mit einem silbrigen Licht, so dass Lydia kaum mehr unterscheiden konnte, was real war und was nur ein Schatten. Sie saß ganz still da.
Chang An Lo lag auf der Seite und atmete ruhig. Sein Kopf lag auf ihrem Schoß, das Gewicht seiner Wange schmiegte sich warm an ihren nackten Schenkel. Seine Augen waren geschlossen, und Lydia studierte sein Gesicht mit der gleichen Intensität, mit der sie als kleines Mädchen eine Schneeflocke betrachtet hatte. Als könnte sie allein dadurch, dass sie lange genug darauf schaute, herausfinden, worin diese wundersame Schönheit bestand und wie man sie folglich auch wieder zusammensetzen konnte, wenn sie geschmolzen war.
Sie musterte seine Gesichtszüge genau. Den feinen Knochen unter seiner Augenbraue, der zu einem so eindrucksvollen Bogen geschwungen war, wenn er sich über etwas amüsierte, der dicke Kranz schwarzer Wimpern. Die länglichen, glatten Augenlider. Gab es Bilder, die dort unter ihrer Oberfläche festsaßen?, fragte sie sich. In dem durchscheinenden Schimmer des Mondlichts sah die Haut seiner Lippen metallisch aus. War es das, was seine Götter taten? Ihn für ihre eigenen Zwecke zu formen? Und für China? Und waren sie genau in diesem Moment irgendwo um sie herum, unsichtbar, und lachten über ihre Vermessenheit?
Sie lauschte aufmerksam. Kein Geräusch, kein Flüstern, kein höhnisches Lachen hinter vorgehaltener Hand. Keine unsichtbaren Präsenzen, die durch die Ritzen im Fenster schwebten oder in dünnen Rauchschwaden unter der Tür hereinkrochen. Die Nacht war götterfrei. Nur Changs Atem, sanft wie das Mondlicht selbst. Wie lange konnte sie ihn für sich behalten? Wie lange ihn von seinen Göttern und seinen Weggefährten fernhalten, ihn der Gefahr entreißen? Sie wusste, dass das nicht ewig gehen würde. Ihre Angst um ihn war wie ein Knoten in ihr, der jeden Tag fester wurde, und ihre Angst beängstigte sie.
»Weiß Kuan, dass du nachts das Hotel verlässt?«
Chang öffnete die Augen. Seine schwarzen Wimpern waren schwer, und Lydia bedauerte es, ihn angesprochen zu haben. Seine Augen blickten verwirrt – ihr war nicht bewusst gewesen, dass er am Rande des Schlafes war. Zuvor hatte er ihr gesagt, sie brauche mehr Ruhe, denn wenn sie müde sei, mache sie Fehler, doch das Gleiche galt auch für ihn. Und jetzt hatte sie ihn geweckt.
»Du meinst«, sagte er und verzog den Mund langsam zu einem Lächeln, »ob Kuan eifersüchtig ist, wenn ich das Hotel nachts verlasse.«
»Natürlich nicht.«
Er lachte, und sie beugte den Kopf und küsste ihn auf den offenen Mund.
»Weiß sie Bescheid?«, fragte sie wieder.
»Sie sagt nichts, aber ich bin mir sicher, sie denkt sich ihren Teil.«
»Ist das gefährlich?«
»Gefahren lauern überall.«
»Wissen es deine russischen Bewacher?«
»Ich glaube nicht. Ich bin leise. Ich verlasse das Hotel durch das Badezimmerfenster und über die Dächer.«
»Pass auf dich auf.«
»Das tue ich.«
»Versprich es mir.«
»Ich verspreche es.«
Sie legte eine Hand auf sein seidiges schwarzes Haar, breitete die Finger aus, als wollte sie ihn beschützen. »Schlaf jetzt«, wisperte sie. »Du brauchst Ruhe.«
»Ich brauche dich.«
»Ich bin da.«
Sie spürte, wie sein Atem die feuerroten Löckchen unterhalb ihres Bauches in Bewegung versetzte. Für Situationen wie diese hatte sie sich irgendwann einmal beigebracht, mit dem Denken aufzuhören, sich einfach auszuklinken und nur noch zu sein. Die würzig duftende Wärme seines Körpers zu genießen, ebenso wie den
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