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Die Sehnsucht des Dämons (German Edition)

Die Sehnsucht des Dämons (German Edition)

Titel: Die Sehnsucht des Dämons (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Chong
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er wieder mit Gleichaltrigen in Kontakt. Während seiner Zeit an der Universität lernte Julian sehr viel – und nicht nur im Hörsaal. Er betrat eine Welt, die er nie zuvor gekannt und von der er gar nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existierte. Er erlebte trotz seiner eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten ein Hochgefühl, denn er war frei. Seine Kommilitonen waren zwar eindeutig welterfahrener als er, aber er war ein stattlicher junger Mann von siebzehn Jahren und noch dazu ein Adeliger, der eines Tages ein Herzogtum erben würde. Schon bald fand er sich in den höheren Rängen des universitären Lebens wieder.
    Er verbrachte eine herrliche Zeit in Oxford. Sein Tag bestand aus Ruderpartien auf der Isis, wie die Themse dort genannt wurde, Fuchsjagden und Reitausflügen in die weiten Ebenen von Port Meadow. Er genoss das Ritual, sich für das Abendessen in der gotischen Halle des Christ Church College fein zu machen. Fast jeden Abend zogen sich Julian und seine Freunde danach in die Gemeinschaftsräume zurück, um zu trinken. Manchmal wagten sie auch einen Ausflug in die Wirtshäuser der Stadt, in denen Studenten eigentlich der Zutritt verboten war. Die Vorlesungen spielten eine eher untergeordnete Rolle, obwohl Julian großen Respekt für seine Lehrer empfand. Von ihnen erbte er die Begeisterung für die großen Philosophen der Aufklärung – Rousseau, Voltaire, Kant.
    Nach seinem Universitätsabschluss begab sich Julian auf die Grand Tour , die damals übliche Reise für die Söhne des europäischen Adels durch Mitteleuropa. Paris, Südfrankreich, Barcelona, Madrid, Rom, Florenz … Er wirbelte wie ein Tornado durch die kulturellen, kulinarischen und sinnlichen Höhepunkte dieser Orte und sog alles in sich auf.
    Schließlich kam er in Venedig an. La Serenissima , „die durchlauchtigste Republik“, Perle der Adria. Venedig bildete den Gegenentwurf zu seiner engen, verklemmten Kindheit. Es war ein Ort der Ausschweifungen und Kurtisanen, ein ganzes Universum entfernt von seinem Vater, der mittlerweile auf seinem herzoglichen Landsitz in Berkshire verrottete.
    In den Spielsalons meinten es die Götter gut mit ihm, und er konnte sein Reisebudget auf eine stattliche Summe, ein kleines Vermögen, erhöhen. Seine Vormittage verbrachte er in den Kaffeehäusern, abends dinierte er in den feinsten Restaurants. Er freundete sich mit italienischen Aristokraten an, mit Händlern, Künstlern und Intellektuellen, ließ sich von den berühmtesten Kurtisanen der Stadt beglücken, besuchte die Oper und fand Trost in den herzzerreißend schönen Arien der Sopranistinnen. Sein Charme und sein gutes Aussehen ermöglichten es ihm, auch sie zu erfreuen.
    Oxford war für ihn eine angenehme Abwechslung und eine gute Lehrzeit gewesen. Doch Venedig zeigte ihm, wo sein Platz in der Welt war. Hier blühte er auf und genoss die Vorzüge des Lebens eines reichen jungen Mannes. Er ließ seine Vergangenheit hinter sich und wurde ein neuer Mensch. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich wirklich lebendig. Erfüllt. Stark.
    Und zum ersten Mal in seinem Leben stellte er fest, dass es in der Serenissima auch arme Menschen gab. Die Bettler, die unter den Torbögen der Stadt saßen. Die Straßenhändler, die ihre Waren auf der Piazza San Marco feilboten. Die Dienerschaft, die sein Quartier sauber machte und ihm das Essen brachte. Sein neu entdecktes Selbstbewusstsein verlieh ihm Nachgiebigkeit, machte ihn milder und freigebiger. Es wurde ihm zur Angewohnheit, in jede ausgestreckte Hand eine Münze zu legen und Lob auszusprechen, wann immer es angebracht war. Außerdem dachte er viel über die Pächter auf dem Anwesen seines Vaters nach, wie er ihr Leben erleichtern und welche Verbesserungen er nach dem Tod seines Vaters einführen könnte. Wenn er der Herzog war.
    Kurz gesagt: Er hatte sich zu einem guten Menschen entwickelt.
    Doch als er an einem schwülen Nachmittag an einem der Kanäle entlangspazierte, begegnete er der Frau, die all das zunichtemachte. Sie sah ihn einfach an mit ihren grünen Augen. Er war nur kurz stehen geblieben auf dem engen Kopfsteinpflasterweg, aber lange genug, um ihre Schönheit und scheinbare Unschuld wahrzunehmen. Damals wusste er nicht, dass sie gefährlich war. Ahnte nichts von ihrem Verrat.
    Eine ganze Dekade dauerte es, bis sie ihn zu einer willenlosen Schachfigur in ihrem hasserfüllten Spiel gemacht hatte. Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Für sie focht er ein Duell aus, in dem er

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