Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
von Stund an nicht mehr gesehen.«
Charles schwang die Beine aus dem Bett und beugte sich angespannt vor. »Und weiter?«
»Ihre Miss Harriet«, Charles merkte sehr wohl, dass Harding jedes Mal die Betonung auf Ihre legte, »rauschte danach ebenfalls aus dem Zimmer, mit hochrotem Kopf und hocherhobener Nase. In dem Raum soll es ausgesehen haben wie auf einem Schlachtfeld. Aber ich persönlich neige dazu, das für eine typische Übertreibung des indischen Personals zu halten.« Harding ließ seinen Blick grinsend über Charles gleiten, dessen Augen die übliche Zurückhaltung und Kühle verloren hatten, sondern amüsiert und aufgeregt glänzten. »Auf jeden Fall scheint die Liebe einen ziemlichen Sprung bekommen zu haben, denn eine Woche später reiste sie ab.«
Charles lehnte sich wieder zurück, überkreuzte die Beine und griff nach dem Brief. »Nach Boston.«
»Nach Boston«, nickte Harding bestätigend. »Was das bedeutet, muss ich Ihnen nicht erst sagen, oder?«
Charles rieb sich den Nasenrücken zwischen Daumen und Mittelfinger, während er auf Harriets Brief blickte. »Finden Sie doch heraus, welches Schiff sie genommen hat, Mortimer. Vielleicht sollten wir die junge Dame auf ihrem langen, gefährlichen Weg begleiten.«
»Sie hat ein Postschiff bis nach Madras genommen und ist dort auf die Red Vanessa umgestiegen«, antwortete Harding wie aus der Pistole geschossen.
»Die Red Vanessa? « Dieser Name weckte in Charles unangenehme Assoziationen.
Harding nickte grimmig. »Eines von O’Connors Schiffen. Sie meiden zwar Kalkutta, um uns nicht in die Quere zu kommen, machen aber die Häfen im Süden unsicher. Allerdings haben sie noch nicht versucht, uns dort Probleme zu machen.«
Seit Charles Jack O’Connor damals hatte laufenlassen, hatte dieser sich an die Vereinbarung gehalten, nicht mehr in Kalkutta aufzutauchen. Das war auch gesünder für ihn, da er zu viel über El Capitano und dessen Geschäfte wusste. Dagegen liefen die Schiffe der Boston Independence Company nach wie vor südindische Häfen an. »Welchen Vorsprung haben sie?«
»Nur zwei Wochen. Sie segeln in einem amerikanischen Konvoi. Soll ich einige Schiffe nachschicken?«
»Wir werden selbst losfahren«, entschied Charles. »Dabei können wir uns gleich davon überzeugen, dass sich unsere Geschäftspartner in Westindien noch an die Vereinbarungen halten und bei Gelegenheit den Kerlen, die uns angreifen, auf die Finger klopfen.«
Charles legte den Brief endgültig weg und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Durchaus möglich, dass sich ihre Wege schneller wieder kreuzten, als Harriet dachte.
5. Kapitel
H arriet saß bei geöffneten Luken in ihrer Kajüte und hoffte, dass die frische Meeresluft einen Teil der manchmal recht strengen Ausdünstungen auf dem Schiff vertrieb. Bilgenwasser, Teergeruch, die vielen schwitzenden Menschen auf engstem Raum und lebender Proviant wie Hühner, Ziegen und Schweine bildeten ein recht fragwürdiges Bouquet, an das sie sich wohl niemals völlig gewöhnen würde.
Aber sie war nicht unzufrieden. Die Reise auf der Red Vanessa war, trotz aller Einschränkungen, die man auf so beengtem Raum und mitten auf dem Meer in Kauf nehmen musste, bisher angenehmer verlaufen, als Harriet gefürchtet hatte. Sie waren immerhin schon einige Monate unterwegs, hatten – ohne dass Harriet nennenswert seekrank wurde – sogar schon das stürmische Kap der Guten Hoffnung umsegelt und befanden sich nun auf der Route, die sie zu den Westindischen Inseln bringen sollte. Das Schiff war relativ geräumig und bot gut zahlenden Passagieren wie ihr eine ausreichend große Kajüte, die sie mit Lan Meng und ihrer Zofe teilte.
Der Entschluss zu dieser Reise war zugegebenermaßen etwas spontan erfolgt, was unter anderem an Harriets völlig familienuntypischer Abenteuerlust lag – zweifellos ein Erbteil ihrer Großmutter väterlicherseits. Die rüstige Dame hatte nach dem Tod ihres Gatten, und nachdem ihre Söhne sich in angemessenen Ehen etabliert hatten, ein sehr freies und abenteuerliches Leben geführt. Vater sprach oft davon, dass Harriet nicht nur ihr rotes Haar und die dunkelblauen Augen, sondern auch ihren Charakter geerbt hätte. Er sagte das immer mit einer Mischung aus Stolz und Bedauern.
Ihrer Mutter hatte es ganz und gar nicht gefallen, dass sie die Reise unternahm, und ihr Vater hätte beinahe ein Machtwort gesprochen, aber Harriet hatte darauf bestanden, ihre amerikanischen Verwandten kennenzulernen. Der
Weitere Kostenlose Bücher