Die Seidenbaronin (German Edition)
der Besetzung mussten die Bewohner große Mengen an Brot, Vieh, Heu, Hafer und Branntwein abtreten. Besonders schwer trifft es die Bauern, denen oftmals der Ertrag des ganzen Jahres verlorenging. Darüber hinaus mussten sie auch noch die Verwüstung ihrer Felder durch die französischen Truppen hinnehmen. Obwohl in Crefeld keine einzige Kampfeshandlung stattgefunden hat, gleicht die Umgebung unserer Stadt einem Schlachtfeld.
Die französischen Soldaten haben sich in selbstgezimmerten Hütten vor dem Fischelner Tor eingerichtet. Für den Bau dieser Biwaks mussten tausend Bürger und Bauern mit Äxten bewaffnet antreten und zwei Tage und Nächte lang Holz hacken. Nun hat man sogar begonnen, den Bockumer Wald zu plündern. Die französischen Offiziere und Grenadiere wurden in den Häusern der Stadt einquartiert – auch unser Palais und das der von Ostrys sind für die Einlagerung vorgesehen.»
Pierre hatte Paulinas Worten mehr oder weniger unbeteiligt gelauscht.
«Wirklich tragisch!», war sein ironischer Kommentar, nachdem sie geendet hatte. Er trank einen weiteren Schluck Wein. «Und daraufhin ist mein Vater freiwillig nach Crefeld gefahren?»
Paulina ließ den Brief sinken. «Letztlich ausschlaggebend war wohl etwas anderes. Die Franzosen haben die Färberei beschlagnahmt, um darin ein Armeekrankenhaus einzurichten. Kronwylers Bruder schreibt, dass ein beträchtlicher Schaden entstanden sei.»
Nun war Pierre doch einigermaßen beeindruckt.
«Dass mein Vater auf diese Nachricht hin sofort nach Crefeld gereist ist, wundert mich allerdings nicht. Wehe dem, der sich an seinem geheiligten Eigentum vergreift!»
Paulina musste ihm im Geheimen zustimmen. Sie konnte sich von Ostrys Entrüstung bildlich vorstellen. Er mochte der Besetzung Crefelds mit einer gewissen sachlichen Gelassenheit für die Unabänderlichkeit der Dinge begegnen. Die Beschlagnahmung der Färberei jedoch würde er, wie sie ihn kannte, nicht so ohne weiteres hinnehmen.
Pierre schenkte sich Wein nach. «Da ich nun also weiß, warum wir beide nach Blommersforst zitiert wurden, kann ich ja getrost bald wieder abreisen.»
Dass er nicht lange in Blommersforst bleiben wollte – dafür hatte Paulina ein gewisses Verständnis. Auch sie fühlte sich nicht besonders wohl in Westfalen.
Blommersforst, ein mächtiger, betagter Backsteinbau mit dicken Mauern und kleinen Fenstern, stand in einem weitläufigen Park zwischen hohen, alten Bäumen. In der unmittelbaren Nachbarschaft hatte Conrad von Ostry einige neue Gebäude errichten lassen, in denen das Lager, die Färberei, die Weberei und die Wohnräume der Weberfamilien untergebracht waren. Dadurch glich Blommersforst eher einem Fabrikgelände als einem vornehmen Adelssitz. Der harte Alltag der Weber beherrschte auch das Leben der Fabrikantenfamilie von Ostry. Seitdem nun auch noch Kronwyler mit seiner Familie und seinem Gefolge nach Blommersforst übergesiedelt war, musste man sich die kleinen Räume des Schlosses teilen, was niemandem so recht behagte.
«Darf ich fragen, wohin Sie zu fahren gedenken, wenn Sie Blommersforst verlassen?», wollte Paulina von ihrem Gatten wissen.
Pierre tat erstaunt. «Welch dumme Frage! Natürlich fahre ich nach Berlin zurück. Es liegt an Ihnen, ob Sie mitkommen möchten oder nicht. Da wir beide jedoch offenbar verschiedene Vorstellungen vom Leben haben, scheint es mir fast unvermeidbar, dass wir in Zukunft getrennte Wege gehen.»
Nichts lieber als das, hätte Paulina gerne ausgerufen, aber sie beherrschte sich. Dies war noch nicht der richtige Zeitpunkt für eine Aussprache. Einstweilen versuchte sie also, dem Aufenthalt in Blommersforst das Bestmögliche abzugewinnen. Dies erwies sich jedoch als nicht so einfach. Obwohl sie bereits seit fast einem Jahr in Blommersforst weilten, waren Frau von Ostry und Catherine weit entfernt davon, sich in Westfalen wohl zu fühlen.
«Endlich jemand, mit dem es sich reden lässt», seufzte Catherine erleichtert. «Mit Mutter und Sybilla ist ja nichts anzufangen, da sie die ganze Zeit über jammern. Und die adeligen Familien der Umgebung meiden uns wie die Pest. Sie weigern sich, uns zu empfangen, da wir Bürgerliche sind. Handeltreibende auf einem Adelssitz – das scheint für sie geradezu Ketzerei zu sein.»
Die Weihnachtszeit nahte, und zu Frau von Ostrys Kummer traf ein Brief ihres Gatten aus Crefeld ein, in dem er der Familie mit Bedauern mitteilte, dass Jean und er zum Heiligen Abend nicht nach Blommersforst kommen
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