Die Seidenbaronin (German Edition)
Überraschung!»
Ihr alter Freund aus Hannover blickte erstaunt auf. Paulina erkannte ihn kaum wieder. Er hatte seine verschwitzte Färberkluft gegen einen einfachen, aber schmucken Rock getauscht und sah nicht mehr wie ein Lehrling, sondern eher wie ein braver Bürger aus. Eilig kam er über die Straße auf Paulina zu.
«Madame!», begrüßte er die junge Frau mit einem galanten Handkuss. «Was hat Sie nach Crefeld verschlagen?»
Paulina musterte ihn wohlwollend. Ihr war vorher nie aufgefallen, dass er ein so ansehnlicher junger Mann war. Die langen Locken und der schmale Schnurrbart, der seine vollen Lippen zierte, standen ihm außerordentlich gut. Ein Hauch von schlechtem Gewissen regte sich in ihr, denn sie hatte im Durcheinander der letzten Monate nie darüber nachgedacht, was wohl aus Thomas geworden war. Angesichts seiner respektablen Erscheinung erschien es ihr unpassend, ihn weiterhin wie einen Untergebenen anzusprechen.
«Und Sie?», wollte Paulina neugierig wissen. «Trotz dieser unruhigen Zeiten scheint es Ihnen gutzugehen.»
Mit stolz geschwellter Brust antwortete er: «Auch in unruhigen Zeiten werden Färber gebraucht, die sich auf ihr Handwerk verstehen. Ich darf mich rühmen, mittlerweile zu den Fabrikmeistern zu zählen.»
«Gratuliere! Es freut mich, dass Ihre Entscheidung, mit Kronwyler nach Crefeld zu gehen, offenbar die richtige war.»
«Und ob! Ich kann wohl ohne Eitelkeit von mir behaupten, dass ich ein Meister meines Fachs geworden bin.»
Paulina legte nachdenklich den Kopf zur Seite. «Dann wundert es mich allerdings, warum von Ostry Sie nicht mit nach Westfalen genommen hat. Es passt nicht zu ihm, gute Mitarbeiter ziehen zu lassen.»
«Er wird seinen Grund gehabt haben», antwortete Thomas ausweichend. «Leider können wir ihn nun nicht mehr danach fragen.»
«Ich gehe davon aus, dass Sie anderswo Ihr Auskommen gefunden haben.»
«Allerdings, und das nicht schlecht! Kronwyler hat mich vor seiner Abreise nach Westfalen an die von der Leyens vermittelt.»
«An die von der Leyens? Wie konnte er nur so dumm sein?»
Thomas wirkte ein wenig gekränkt. «Gnädige Frau, er ist immerhin mit ihnen verwandt! Und mir hat er einen großen Gefallen erwiesen.»
«Ihnen gewiss, aber uns dafür umso weniger.» Paulina hatte plötzlich das unbestimmte Gefühl, dass das Ausscheiden des jungen Mannes aus dem Unternehmen noch mit irgendetwas anderem zusammenhängen musste. Es erschien ihr fast undenkbar, dass ihr geschäftstüchtiger Schwiegervater freiwillig auf einen so guten Arbeiter verzichtet hatte.
«Ich hörte, dass man den Volksrepräsentanten bei Ihnen im Haus einquartiert hat», wechselte Thomas das Thema.
«So? Davon weiß ich noch gar nichts. Wir sind gerade erst in Crefeld eingetroffen.»
«Er soll ein schrecklicher Mensch sein», fuhr Thomas fort. «Leider gibt es praktisch nichts, das in dieser Stadt ohne ihn entschieden wird.»
«Ich nahm an, die Generäle hätten das Sagen.»
«Das ist wohl wahr, gnädige Frau. Man ist jedoch dabei, eine Art Verwaltung in den besetzten Gebieten zu schaffen, und jener Mann ist für unseren Bezirk zuständig.»
Paulina sah im Geiste bereits die nächste Krise der Damen von Ostry kommen, wenn sie erfuhren, welchen Gast sie da im Hause hatten. Einigermaßen beunruhigt beschloss sie, den Besuch des Geschäftshauses zu verschieben und zuerst der merkwürdigen Sache mit dem Volksrepräsentanten auf den Grund zu gehen. Nachdem sie sich von Thomas verabschiedet hatte, kehrte sie geradewegs zum Wohnhaus zurück.
Sie traf ihre Schwiegermutter, Catherine und Sybilla in größter Aufregung an. Anstatt wie vermutet mit hausfraulichem Eifer ihr Heim in Besitz zu nehmen, hatten sie alles stehen und liegen lassen und sich in den Salon zurückgezogen. Als Paulina den Raum betrat, stürmten die Damen hysterisch auf sie zu.
«Es ist unglaublich!», beschwerte sich Frau von Ostry, schon wieder am Rande einer Nervenkrise. «Dieser Volksrepräsentant wohnt bereits seit Tagen in unserem Haus! Man hat ihn bei uns einquartiert, weil wir französische Vorfahren haben. Er mag die Preußen nicht, wurde uns gesagt.»
«Haben Sie schon mit ihm gesprochen?», fragte Paulina.
«Gott bewahre!», kreischte Sybilla dazwischen.
Und auf Paulinas fragenden Blick antwortete Catherine verstört: «Er ist ein … hm … etwas seltsamer Mensch. Nicht gerade vertrauenerweckend, würde ich sagen.»
«Das ist kein Mensch, sondern eine Kreatur!», rief Frau von Ostry mit weit
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