Die Seidenbaronin (German Edition)
aufgerissenen Augen.
Paulina sah ein, dass aus den völlig aufgelösten Damen keine brauchbare Auskunft herauszubringen war.
«Wo ist Pierre?», wollte sie also wissen.
«Er ist ins Rathaus gegangen», antwortete Catherine. Tränen liefen über ihr Gesicht. «Nachdem er ein paar Sätze mit dem Volksrepräsentanten gewechselt hatte, kam er wutentbrannt aus dessen Räumlichkeiten gestürmt und verkündete, dass er sofort beim Magistrat einen Antrag stellen wolle, diesen unmöglichen Menschen aus unserem Haus zu entfernen.»
«Ihn zu entfernen?» Paulina konnte sich nur einmal mehr über die bizarre Ausdrucksweise ihrer Schwägerin wundern. «Er mag Ihnen ja unsympathisch sein, aber deshalb ist er doch kein Gegenstand, den man entfernt.»
«Von alleine wird er dieses Haus jedenfalls nicht verlassen!», schrie Catherine, sank auf einen Stuhl und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Paulina zeigte sich nun höchst beunruhigt über die Zustände, die während ihrer kurzen Abwesenheit im Hause von Ostry Einzug gehalten hatten. Die Damen waren völlig aus dem Häuschen, und Pierre hatte offenbar nichts anderes zu tun, als sich gleich nach seiner Ankunft in Crefeld bei den Franzosen unbeliebt zu machen. All das war ausgelöst worden durch einen Mann, der in ihrem Haus wohnte und so etwas Ähnliches wie der Teufel in Person zu sein schien.
Die junge Frau fand, dass es höchste Zeit war, sich selbst ein Bild von diesem kuriosen Volksrepräsentanten zu machen.
Unverzüglich machte sie sich auf den Weg zu den Räumlichkeiten, die er in der unteren Etage bezogen hatte. Vor der Tür waren zwei Soldaten postiert, von denen einer Paulina mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass sie noch warten solle.
Aus dem Raum, in dem der Volksrepräsentant sich wohl befinden musste, waren laute Stimmen zu vernehmen. Ein heftiges Wortgefecht schien im Gange zu sein.
Nachdem Paulina eine Weile mit immer banger werdendem Herzen dem unverständlichen Schreien gelauscht hatte, flog plötzlich die Tür auf, und ein französischer Offizier stürmte mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer. Ohne sich nach rechts und links umzusehen, eilte er mit wütenden Schritten davon.
«Niemand hat sich über meine Anordnungen hinwegzusetzen!», ertönte eine donnernde Stimme auf Französisch aus dem Raum. «Diesen Preußen werde ich es austreiben, ihre wahnwitzigen Forderungen zu stellen! Sie begreifen nicht, dass sie die Besiegten sind! Soldat Bergier, wir begeben uns augenblicklich ins Rathaus!»
Der angesprochene Soldat steckte den Kopf zur Tür hinein.
«Eine Bürgerin wünscht Sie zu sprechen, Herr Volksagent. Sie scheint hier im Haus zu wohnen.»
«Ich kann nur hoffen, dass sie sich für das unmögliche Verhalten dieses von Ostry entschuldigen wird. Die Kaufleute in dieser Stadt meinen, sich alles erlauben zu können. Ich werde ihnen schon noch beibringen, wie sie sich zu benehmen haben!»
Der Soldat drehte sich zu Paulina um und machte eine auffordernde Handbewegung. Die junge Frau merkte zu ihrem Ärger, dass ihr die Knie schlotterten. Mit einem zornigen Blick auf den Franzosen betrat sie mutig die Höhle des Löwen.
Es waren die ehemaligen Räumlichkeiten ihres verstorbenen Schwiegervaters, in denen der Volksrepräsentant sich eingerichtet hatte. Beim Anblick der nüchternen, aber erlesenen Möblierung, die genauso beibehalten worden war wie zu Zeiten des alten von Ostry, wurde es Paulina weh ums Herz. Einen Augenblick lang hatte sie die irrige Vorstellung, dass sie nur einen bösen Traum gehabt hätte und dass die Person hinter dem Schreibtisch der mit Sorgenfalten und kratzender Feder über seinen Papieren sitzende Conrad von Ostry wäre.
Die Wirklichkeit zeichnete jedoch ein anderes Bild. Auf dem ehemaligen Platz des Seidenfabrikanten hockte eine absonderliche Gestalt mit dichtem, feuerrotem Haar und buschigen Koteletten. Eine lange Narbe verlief quer über die Wange des Mannes und gab seinem Gesicht etwas Groteskes. Die unheimliche Gestalt starrte Paulina mit einem Blick entgegen, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Zögernd ging die junge Frau auf den Mann zu, mit der vagen Ahnung, ihm schon einmal begegnet zu sein. Noch während sie sich ihm näherte, drückte er sich plötzlich von seinem Platz nach hinten weg, machte eine Vierteldrehung und bewegte sich wie durch Zauberhand zur Seite. Als er neben dem Schreibtisch auftauchte, sah Paulina, dass er in einem merkwürdigen Stuhl saß, der statt vier Beinen seitlich zwei Räder und
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