Die Seidenbaronin (German Edition)
und möchte Sie dringend sprechen.»
«Wie bitte? Warum hast du ihn nicht längst nach Hause geschickt? Weißt du denn nicht, dass ich um diese Zeit nicht mehr empfange?» Sie machte eine ungeduldige Handbewegung und beugte sich wieder über ihre Bücher. «Sag dem Haushofmeister Bescheid, er möge den Herrn verabschieden.»
«Ähm … Madame … das ist nicht möglich …»
Paulina blickte wieder auf. «Warum ist das nicht möglich, dummer Junge?»
«Nun ja … der Haushofmeister weiß überhaupt nicht, dass der Herr hier ist.»
«Habe ich richtig gehört? Seit Stunden hält sich ein Herr in diesem Hause auf, und der Haushofmeister weiß nicht Bescheid?»
«Er war unterwegs, als der Herr kam.»
«Kannst du mir wenigstens sagen, wer unser Gast ist?»
Der Page schüttelte den Kopf. «Er wollte es mir partout nicht verraten. Scheint ein wichtiger Mann zu sein.»
Paulina kam zu dem Schluss, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als sich selbst um die Angelegenheit zu kümmern.
«Also gut!», stöhnte sie und stand auf. «Wo ist der Herr?»
«Ich habe ihn in Ihr Empfangszimmer geführt. Er bat mich, den Herrn Grafen nicht über seine Anwesenheit zu unterrichten.»
Das wurde ja immer besser! Diesem geheimnisvollen Besucher würde sie erst einmal gehörig den Marsch blasen. Wie kam er dazu, die Gutmütigkeit ihres jungen Pagen auszunutzen und ihren Hausstand derart durcheinanderzubringen! Manche Leute waren an Vermessenheit wirklich nicht zu überbieten.
Ohne anzuklopfen, platzte Paulina in ihr Empfangszimmer hinein, geladen vor Wut. Diese steigerte sich noch, als sie sah, dass der Mann, der mit dem Rücken zu ihr am Fenster stand und in die Nacht hinausblickte, alles andere als ein vornehmer Herr zu sein schien, sondern in seiner einfachen, zerknitterten Kleidung eher einem fahrenden Händler glich.
Dann drehte er sich um …
Paulinas Augen weiteten sich. Ihr Arm, den sie zu ihrer geplanten Zurechtweisung gehoben hatte, sank herab. Jahre ihres Lebens spulten sich in einer blitzschnellen Abfolge von Bildern in ihrem Kopf ab. Jahre der Arbeit, der Einsamkeit, der gewaltsam verscheuchten Erinnerungen. Und plötzlich brach der Kummer über sie herein, den sie in all diesen Jahren immer wieder verdrängt hatte – der unendliche Kummer über ihre verlorene Liebe.
Sie stürmte auf den Besucher zu, und während ihr die Tränen in die Augen schossen, hämmerte sie mit den Fäusten auf ihn ein.
«Wie können Sie es wagen, nach so langer Zeit bei mir aufzutauchen? Verschwinden Sie! Verlassen Sie sofort mein Haus! Ich will Sie nie wiedersehen! Noch einmal werde ich nicht zulassen, dass Sie mich unglücklich machen, Herr von Bahro!»
Der Besucher hielt schützend seine Arme vors Gesicht.
«Ich bitte Sie, Madame, beruhigen Sie sich! Was ist denn in Sie gefahren?» Er versuchte, ihre Hände zu packen. «Mit welchem Recht bereiten Sie mir einen solchen Empfang?»
Paulina war wie von Sinnen. «Gehen Sie! Kein Mensch hat mich so schlecht behandelt wie Sie. Und das will etwas heißen, denn es gibt einige, die mich schlecht behandelt haben. Aber die anderen waren wenigstens ehrlich zu mir!»
«Sie wissen nicht, was Sie reden! Kommen Sie zur Vernunft!» Vergeblich mühte sich Christian von Bahro, die wild gewordene Paulina zu bändigen.
«Zur Vernunft?», rief sie. «Ach, ich weiß, die wird in Ihrer Familie großgeschrieben!»
Christian bekam endlich ihre Arme zu fassen. Angestrengt versuchte er, sie festzuhalten. «Schweigen Sie, Madame! Der Einzige, der Grund zu Vorwürfen hat, bin ich!»
Paulina hielt inne, trat einen Schritt zurück und sah ihn aus tränenüberströmten Augen an. «Was sagen Sie da? Das ist ja wohl der Gipfel der Unverschämtheit! Sie haben mich damals nach Westfalen kommen lassen, haben mich dort auf Sie warten lassen und sich nicht mehr bei mir gemeldet. Stattdessen sind Sie seelenruhig nach England gefahren! Und da wollen Sie mir etwas vorwerfen!»
«Ich verstehe nicht ganz, wovon Sie reden, Madame! Selbstverständlich habe ich Ihnen nach Blommersforst eine Nachricht geschickt. Ich bat Sie in meinem Brief um ein Treffen in Münster. Sie sind jedoch nicht gekommen!»
«Münster?» Paulina war nun völlig entgeistert. «Sie haben mir geschrieben, dass ich nach Münster kommen soll? Ich habe in Blommersforst keinen einzigen Brief von Ihnen erhalten.»
«Sie waren nicht in Blommersforst, Madame. Nachdem ich in Münster vergeblich auf Sie gewartet hatte, schickte ich meinen Leibdiener zu
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