Die Seidenbaronin (German Edition)
geblendet von ihr sein, dachte Paulina unwillkürlich. Wie oft hatte sie in den letzten Tagen darüber nachgedacht, was sie auf Luises Fragen antworten sollte! Und nun, da die Königin vor ihr stand, erschienen ihr all die salbungsvollen Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte, absurd. Ihr war plötzlich klar, dass es nur eine einzige Antwort geben konnte.
«Seien Sie vor Napoleon Sie selbst!», empfahl sie der alten Freundin. «Spielen Sie ihm nichts vor! Der Kaiser lässt sich nicht täuschen. Er würde Sie sofort durchschauen. Egal, was man Ihnen raten wird, Majestät – verstellen Sie sich nicht!»
Luise starrte Paulina fasziniert an. «Wollen Sie mir etwa sagen, dass ich ihm auch all meine Wut an den Kopf werfen könnte?»
Paulina bemerkte aus dem Augenwinkel den entsetzten Blick der Gräfin Voß und lächelte. «Sie werden nicht dazu kommen, Majestät.»
«Wie meinen Sie das?»
«Ganz einfach. Ich glaube, dass Napoleon Sie wundervoll finden wird. Und das wird er Ihnen zeigen.»
Luises Augen sprühten Funken. «Glauben Sie bloß nicht, dass ich mich von ihm um den Finger wickeln lasse!»
«Napoleon wäre niemals dahin gekommen, wo er heute ist, wenn er nicht ein unglaubliches diplomatisches Geschick besäße. Man darf ihn auf keinen Fall unterschätzen. Selbst ich, die ich mir einbilde, eine erfahrene und unbeugsame Verhandlungspartnerin zu sein, musste mein Lehrgeld bezahlen. Sie werden den Kaiser weder mit Klagen noch mit Schmeichelei beeindrucken können. Lassen Sie Ihre Persönlichkeit für sich sprechen – dies ist mein einziger Rat!»
«Und dafür musste sie extra aus Paris kommen», brummte die Gräfin Voß kopfschüttelnd.
Gefolgt von einem Tross junger Bauernburschen rauschte die Gräfin Tauentzien ins Zimmer. «Man stellt uns zusätzlich das Pfarrhaus zur Verfügung», teilte sie dienstfertig mit, während die Burschen begannen, Koffer zu schultern. «Es ist zwar auch nicht viel größer als das Schulhaus, aber dafür liegt es genau gegenüber.» Ihr Blick fiel auf Paulina. «Was stehen Sie noch hier herum? Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie dem Kammerherrn zur Hand gehen sollten?»
Die Oberhofmeisterin machte der jungen Gräfin hektische Zeichen, doch diese bemerkte sie in ihrem Eifer nicht.
«Warum sind die Menschen in Ostpreußen nur so schrecklich schwer von Begriff?», stöhnte sie. «Aber was soll man schon von einem Dorf am Ende der Welt erwarten? Los, los, meine Liebe, machen Sie sich an die Arbeit!»
Paulinas Mund verzog sich zu einem Lächeln. «Mir scheint, die Einzige, die hier schwer von Begriff ist, sind Sie, Madame! Ich bin zwar Ihrer Majestät wegen hier, jedoch ganz bestimmt nicht, um häusliche Arbeiten zu verrichten. Das pflegt mein Personal für mich zu erledigen.» Sie wandte sich der Königin zu, die die kleine Szene amüsiert beobachtete. Ihr verschmitzter Blick erinnerte Paulina an Darmstädter Tage, an ihre vergnügten kleinen Streiche, von denen Luise nie genug bekommen konnte.
Paulina bot ihr den Arm. «Kommen Sie, Majestät! Es ist ein lauer Sommerabend. Lassen Sie uns ein Stück spazieren gehen. Ich werde Ihnen dabei von meinen Begegnungen mit Napoleon erzählen.»
Kapitel 47
Die Abendsonne zauberte ein silbern flimmerndes Band auf den Fluss. Der Himmel war in zarte Pastelltöne getaucht. Nur Grillenzirpen und das leise, glucksende Geräusch des Wassers, das an die Steine am Ufer schlug, waren zu hören.
Paulina schloss die Augen. Sie hatte sich ins Gras gesetzt. Ein lauer Wind streichelte ihr Gesicht. Es roch nach Sommer und nach Meer.
«Frau Gräfin!», ertönte nicht weit von ihr eine strenge Stimme. «Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass es zu gefährlich ist, das Dorf zu verlassen?»
Paulina blinzelte. Gegen die untergehende Sonne zeichnete sich die hochgewachsene Gestalt Christians ab, der am Flussufer stand.
«Oh, was machen Sie zu solch später Stunde noch an diesem zauberhaften Ort?», wollte sie betont fröhlich wissen.
«Das Gleiche könnte ich Sie fragen!», erwiderte er trocken. «Falls es sich um einen Ausflug handeln sollte, möchte ich Sie ersuchen, diesen sofort zu beenden. Schließlich befinden wir uns nicht im Jardin du Luxembourg in Paris.»
Er macht sich Sorgen um mich, dachte Paulina glücklich.
Sie bog den Kopf nach hinten. «Was spricht dagegen, einen Sommerabend an der Memel zu verbringen?»
«Was dagegen spricht? Dies sind nicht die Zeiten, um als Frau alleine in der Gegend herumzuspazieren. Hier treiben sich eine Menge
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