Die Seidenbaronin (German Edition)
1809
Als die Tür des großen Festsaals aufging, erstarben mit einem Schlag alle Stimmen. Wo eben noch Gelächter und Unterhaltungen den Raum erfüllt hatten, herrschte plötzlich bedrückendes Schweigen.
Kaiser Napoleon betrat den Saal. Im blauen Rock seiner Garde-Grenadiere, die Hand in der Weste verborgen, schritt er mit wiegendem Gang und steinerner Miene die Banketttafeln ab. Nur das Klappern seiner Stiefel auf dem Parkett war zu hören.
Immer wieder blieb er hinter einem Gast stehen, der seine Gegenwart und seinen Blick im Rücken spürte und sich kaum zu bewegen wagte. Gestandene Generäle, die auf den Schlachtfeldern Europas die heldenhaftesten Taten verübt hatten, erzitterten. Damen, die den Zorn ihrer Ehegatten nicht fürchteten, wenn sie ihnen Hörner aufsetzten, waren bleich wie der Tod geworden.
Napoleon trat hinter die Gräfin Maricourt, die in einem golddurchwirkten Kleid neben ihrem Gemahl saß.
«Wieder aus der Provinz zurück, Madame?», fragte er und beugte sich zu der schönen Gräfin hinunter, die ihn aus ihren Katzenaugen anblickte. «Wer war denn diesmal der Grund Ihrer Verbannung?»
Madame de Maricourt schluckte.
«Eigentlich dürfte doch fast niemand mehr übrig bleiben», fuhr der Kaiser fort. «Wahrscheinlich bin ich der Einzige in ganz Paris, der noch nicht das Vergnügen hatte.»
Die Gräfin Maricourt wurde knallrot im Gesicht und fächerte sich hektisch Luft zu. Einige der sie umgebenden Damen konnten eine gewisse Schadenfreude nicht verhehlen.
Eine spürbare Anspannung herrschte im Saal. Der Kaiser zog weiter und blieb hinter einem jungen Mann stehen, dessen Gesicht unter seiner weißen Perücke wie erstarrt war.
«Was machen Sie denn hier, General Junot?», fragte Napoleon in gespieltem Erstaunen. «Betrauern Sie noch immer Ihre Niederlage in Vimeiro? Nun, mein lieber Herzog, ich tue es auch, denn Ihr Versagen hat mich Portugal gekostet, falls Sie das vergessen haben sollten.»
Um die Mundwinkel von Junot zuckte es verdächtig. Es war bekannt, dass die verlorene Schlacht in Portugal und die offenkundige Ungnade des Kaisers den jungen General schwer getroffen hatten und dass er seitdem zur Schwermütigkeit neigte.
«Oder warten Sie etwa immer noch auf Ihre Ernennung zum Marschall?», setzte Napoleon seine Stichelei fort. «Nun, dieser Sorge kann ich Sie entheben.» Er sah sich beifallheischend im Saal um. «Sie werden nämlich niemals Marschall werden.»
Paulina, die sich weit genug vom Kaiser entfernt wähnte, neigte sich zu Pierre hinüber.
«Wie ich diese erzwungenen Empfänge hasse!», flüsterte sie ihm zu. «Seine Laune ist wieder einmal miserabel! Dabei hat Joséphine doch endlich in die Scheidung eingewilligt.»
«Schweigen Sie, Madame», zischte Pierre zurück, «sonst sind Sie die Nächste! Sie wissen doch, dass ihm nichts entgeht.»
Doch Napoleon war schon auf dem Weg zu ihnen. An seinem Blick erkannte Paulina, dass er ihre kleine Unmutsäußerung bemerkt hatte.
«Wen haben wir denn da?», rief er, noch bevor er sie erreicht hatte. «Die Gräfin Ostry! Haben Sie endlich Ihre Töchter für eine neue Rohseidenquelle verkauft?»
Er blieb hinter Paulina stehen. Sie drehte sich langsam zu ihm um und sah ihn kämpferisch an.
«Ich hörte, dass Ihre Geschäfte in letzter Zeit schlechter gehen», sagte er, und ein grausamer Zug erschien um seinen Mund. «Kann es sein, dass Ihnen einige Ihrer Kunden abhandengekommen sind?»
«Sie sind mir abhandengekommen, weil Ihre Majestät es so wollte», antwortete Paulina mit fester Stimme.
Die Menschen im Saal wechselten erschrockene Blicke. Wie konnte man nur so wahnwitzig sein, dem Kaiser Widerworte zu geben, wenn er solch übler Laune war?
Paulina spürte, dass Pierre sie verstohlen in die Seite stieß. Ein Gefühl von Bitterkeit überkam sie. Selbst ihr Gatte, der sich zeit seines Lebens nicht um Tod und Teufel geschert hatte, war zum Hampelmann des Korsen geworden.
«Ich nehme zur Kenntnis, dass Ihnen zwar Ihre Kundschaft, nicht aber der Hang zur Auflehnung abhandengekommen ist», bemerkte der Kaiser. «Von Ihnen selbst, Madame, bin ich dies immerhin gewöhnt, aber es erstaunt mich, dass auch andere Mitglieder der Familie von Ostry sich darin gefallen, gegen mich, den Kaiser der Franzosen, aufzubegehren.»
Paulina stutzte. Sie blickte kurz zu Pierre, dessen Bestürzung zu echt war, als dass es sich um ihn hätte handeln können.
«Wie darf ich das verstehen, Majestät?»
«Ich bin sicher, dass Sie dieses kleine
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