Die seidene Madonna - Roman
langen Winter ohne ihren Mann hatte sie nur ertragen, weil sie vor lauter Arbeit gar nicht zum Nachdenken gekommen war.
»Ach, mein Jacquou!«, murmelte sie und küsste ihn zärtlich auf den Mund. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie du mir gefehlt hast, mein Lieber.«
Er umarmte und küsste sie so leidenschaftlich, wie es nach dieser langen Trennung nur zu verständlich war. Sie drückte sich an ihn, flüsterte ihm etwas ins Ohr, schob ihn ein Stück von sich, um ihn besser ansehen zu können und warf sich dann aber sofort wieder an seinen Hals.
»Das nächste Mal komme ich mit, ich schwöre es dir. Du sollst mich nie wieder allein lassen.«
Wieder küsste er sie lange und zärtlich, und Julio fühlte sich angesichts ihrer Wiedersehensfreude und der vielen fremden Menschen irgendwie fehl am Platz.
Gauthier richtete als Erster das Wort an ihn.
»Seid Ihr ein Weber oder ein Maler, junger Mann, oder vielleicht gar ein Kaufmann?«
Julio warf einen Blick auf seinen neuen Meister, aber der war
noch nicht mit seiner stürmischen Umarmung fertig. Er hielt Alix fest und küsste sie noch immer leidenschaftlich.
»Tja, unsere Verliebten brauchen wohl noch ein Weilchen«, meinte Gauthier und hustete geräuschvoll.
»Das macht doch nichts«, sagte der Neuankömmling freundlich. »Ich kann mich doch auch selbst vorstellen. Mein Name ist Julio Pescarre. Ich will das Weberhandwerk erlernen und stehe unter dem besonderen Schutz von Kardinal Villiers aus dem Vatikan in Rom. Er hat mich hierher geschickt, damit ich bei Meister Jacques Cassex arbeiten soll - wenigstens so lange, bis alle Aufträge, die er aus Italien mitbringt, erledigt und bezahlt worden sind.«
»Er hat Aufträge mitgebracht!«, rief Arnaude freudestrahlend.
»Ja, und es sind umfangreiche Bestellungen«, bestätigte Julio. Als er sah, wie erfreut seine zukünftigen Arbeitskollegen über diese Nachricht waren, erlaubte er sich noch einige Ausführungen: »Drei Aufträge kommen aus dem Vatikan, zwei sind von Signore Formazzio aus Rom und einer ist von Signora Vinticelli - sie wünscht sich eine Madonna mit dem Gesicht der Pietà des jungen Michelangelo. Meister Cassex hat Arbeit für mehrere Jahre mitgebracht. Monsignore de Villiers sagt, er solle unbedingt noch jemand anderen einstellen, weil alle Aufträge zu bestimmten Zeiten fertiggestellt sein müssen.«
Er reckte sich ein wenig und lächelte die beiden Frauen weiter an, die näher gekommen waren. Eine der beiden war schwanger, und er blieb ein wenig an ihren blauen Augen hängen, die so blau waren wie die Blüten des Immergrüns bei ihm zuhause nach einem Frühlingsregen.
Dann sah er sich den großen Rothaarigen an, der zu der Frau getreten war und sie in den Arm genommen hatte. Sein offenes und herzliches Gesicht war Julio sofort sympathisch.
»Ich bin Mathias, und das ist meine Frau Florine, die in einigen Wochen unser erstes Kind zur Welt bringen wird.«
»Erst in einigen Wochen?«, fragte Arnaude erstaunt. »Das würde mich sehr wundern. Ich glaube, das Kind kommt schon bald. Ich wette, nächste Woche ist es da!«
Als wollte die Vorsehung ihre Worte unterstreichen, begann Florine zu schreien, krümmte sich zusammen und hielt ihren Bauch mit beiden Händen.
»Lieber Gott! Der Himmel hat mich gehört und gibt mir recht. Florine, du wirst doch nicht etwa jetzt gleich anfangen!«
Sie half ihrer Freundin, sich auf den Boden zu legen, nachdem sie eine warme Decke über die Wollfitzel gebreitet hatten, die überall in der Werkstatt den Boden bedeckten.
»Und die beiden küssen sich noch immer!«, rief Arnold mit einem Blick auf Alix und Jacquou.
»Willkommen in unserer Werkstatt, Julio. Ich bin Arnold, der Vorarbeiter. Der kleine Schlingel, der Euch an der Tür begrüßt hat, ist mein Sohn Guillemin, und das hier ist meine Frau Arnaude, die wohl Florine gleich bei der Entbindung helfen wird.«
»Lauf und hol die Bertille, Pierrot!«, rief die ohne aufzusehen, »und sag ihr, sie soll die Hebamme aus der Rue Saint-Benoît mitbringen.«
»Pierrot ist unser Laufbursche«, erklärte Gauthier, der sich angesichts Florines Not hilflos und ein wenig überflüssig vorkam. »Und ich bin nur ein alter Meister, der lieber hier arbeitet als zuhause die Fliegen an der Wand zu zählen.«
Als Florine wieder einen Schrei ausstieß, reagierten endlich auch die beiden Verliebten.
»Lieber Himmel, Florine!«, rief Alix erschrocken, während Jacquou seine beiden Freunde, Arnold und Mathias, begrüßte und
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