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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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Alix anstatt Florine erobern durfte.

20
     
    In Enghien gab es etwa zwanzig Werkstätten, die in Frage kamen. Mathias nahm sich jeden Tag zwei oder drei vor, hatte Jacquou aber noch nicht gefunden.
    Bei der Werkstatt, die er jetzt betrat, hatte er jedoch das sichere Gefühl, seine Nachforschungen wären endlich erfolgreich.
    Jacquou musterte ihn neugierig, überließ es aber dem Vorarbeiter, sich um den Besucher zu kümmern.
    »Kann ich bitte den Vorarbeiter sprechen?«, fragte Mathias.
    »Ja, da seid Ihr bei mir richtig. Was kann ich für Euch tun?«
    »Ich suche Arbeit.«
    »Wir brauchen niemanden, mein Junge.«
    Nachdem er ihn sich genauer angesehen hatte, fragte er aber doch:
    »Wie alt seid Ihr denn?«
    »Ich bin zwanzig.«
    Mathias drehte sich um und sah, dass Jacquou ganz in den Anblick der Leinwand auf dem Metallrahmen versunken war und das Geheimnis des riesigen wilden Tiers zu entschlüsseln versuchte, das darauf gezeichnet war. Ein Ungeheuer, das seine flammenden Blicke nach ihm schleuderte. Halb Löwe, halb Drache bedrohte es mit seinem aufgerissenen Maul, dem gewaltigen Gebiss und den seltsamen Schuppen aus spitzen Stacheln auf dem Rücken beinahe den Karton, der ihm als Vorlage diente.
    »Dieser Kartonmaler scheint nicht viel vom gängigen Geschmack zu halten«, sagte der Vorarbeiter zu Mathias, der nur nickte, weil er nicht wusste, was er darauf sagen sollte.
    Wie hätte der arme Mathias, der noch nicht einmal in die Grundzüge der großen Historienteppiche eingeweiht war, auch wissen sollen, dass dieses Ungeheuer von einem sehr alten Wandteppich mit dem Namen »Apokalypse nach Johannes« stammte? Oder dass es sich dabei um ein Lieblingsbild von Jacquou handelte, der es einmal mit aufgerissenen Augen in der Kathedrale von Angers bewundert hatte, als er gerade mal acht Jahre alt war?
    »Ich mache daraus das schönste Ungeheuer, das man sich denken kann«, sagte Jacquou leise.
    Der Vorarbeiter musste lächeln und nahm Mathias am Arm.
    »Was für eine Arbeit sucht Ihr denn? Ihr seid doch wohl kein Lehrling mehr?«
    »Nein, ich habe gerade meine Meisterprüfung abgelegt.«
    »Wenn das so ist, seid Ihr hier verkehrt. Wir suchen höchstens ein paar Lehrlinge, fleißige kleine Hände zum Fegen, Wolle sortieren oder Leinwand ausmessen. Zwei von unseren Lehrlingen sind nämlich gerade nach Brüssel gegangen.«
    »Es tut mir wirklich leid, aber ich kann nichts für Euch tun«, fuhr er fort, als Mathias noch immer nichts sagte. »Aber es gibt noch genug andere Werkstätten in der Stadt. Ich würde Euch empfehlen, sie alle abzuklappern. Wenn Ihr etwas zu bieten habt, und das müsst Ihr ja, nachdem Ihr die Prüfung bei der Gilde bestanden habt, findet Ihr bestimmt eine Arbeit, die Euch zusagt.«
    Mathias wurde immer verlegener, er spürte, dass er sich eigentlich weiter vorwagen könnte, und nahm an, dass der junge Mann, der da konzentriert und zufrieden an dem Ungeheuer aus der »Apokalypse« arbeitete, der gesuchte Jacquou sein musste.
    Plötzlich fiel ihm wieder ein, was Alix zu ihm gesagt hatte: »Am besten redet Ihr laut und deutlich von dem Einhorn aus Goldfaden oder dem Einhorn auf Pergament. Wenn Jacquou da ist, wird er mit Sicherheit reagieren.«
    »Ich werde Euren Rat befolgen. Glaubt Ihr denn, dass meine Arbeit einem Webermeister gefallen könnte?«
    »Was ist darauf zu sehen?«
    Mathias hielt die Luft an. Er musste jetzt ganz klar und deutlich antworten. Er ging etwas näher zu dem jungen Mann, den er für Jacquou hielt, weil er so in seine Arbeit vertieft schien, dass er womöglich nichts mitbekommen hätte, und sagte dann sehr laut, so laut, dass er sich wahrscheinlich lächerlich machte – aber das spielte jetzt keine Rolle:
    »Auf meinem Teppich ist ein mit Goldfaden gewirktes Einhorn zu sehen. Ja, ein Einhorn!«
    Und diesmal hatte er ins Schwarze getroffen! Jacquou drehte sich zu ihm um und interessierte sich sichtlich für diesen jungen Mann mit seinem Einhorn.
    »Mit Goldfaden! Ihr könnt mit Goldfaden wirken! Das können nur sehr wenige Weber. Wieso sucht Ihr eigentlich Arbeit?«
    »Weil …«
    Mathias konnte diesen jungen Mann noch so komisch anstarren, um ihm klarzumachen, dass die Erwähnung dieses Einhorns ein Zeichen sein sollte für diesen Jacquou, wenn er es denn war – er interessierte sich offensichtlich viel mehr für den Goldfaden als für das Einhorn an sich.
    Mathias befürchtete, dass ihn der Vorarbeiter gleich freundlich, aber bestimmt vor die Tür setzte. Um dem zuvorzukommen,

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