Die Seidenstickerin
hinten um die Taille und drückte sie mit seinen schon recht kräftigen Armen an sich.
»Hilfe, ich krieg keine Luft«, rief Marguerite lachend.
»Ich lass dich erst los, wenn du mit mir Knöchelchen spielst«, sagte er, das Messer zwischen den Zähnen.
Sie versuchte sich aus dem Griff der Kinderhände zu befreien, die ihre winzigen Brüste festhielten.
»Knöchelchen! Auf keinen Fall!«, tat sie entrüstet, während sie den Körperkontakt mit ihrem kleinen Bruder sehr genoss und sich nicht wirklich zu befreien versuchte.
»Beim Knöchelchen-Spiel gewinnst auch immer du, aber beim Schach gewinne ich acht von zehn Partien«, verteidigte das Mädchen seinen Vorschlag.
Die Stimme, die sie eben schon einmal gerufen hatte, wiederholte ihre Aufforderung.
»Marguerite, François, kommt jetzt zum Lateinunterricht.«
Wieder sahen sich die beiden Kinder an. Marguerite drehte den Kopf in Richtung der Stimme, die nach ihnen gerufen hatte, und François ließ seine Schwester auf der Stelle los.
»Monsieur Saint-Gelais ruft nach uns, wir müssen zum Unterricht.«
François machte den Mund auf, und das Messer fiel in seine Hände. Er spielte kurz damit und steckte es dann in die Tasche der weiten Jacke, die er über seinem Leinenhemd trug.
Da stürzte sich plötzlich Hapaguai wie ein unerwarteter Windstoß aus heiterem Himmel auf die beiden Kinder. Prunelle, die mit ihren kurzen Beinen und dem dicken Fell etwas langsamer war, stürmte ausgelassen und mit wedelndem Schwanz hinter ihm her. Ihre langen braunen Ohren bildeten einen schönen Kontrast zu ihrem vollkommen weißen Fell.
Unter lautem Gelächter und gespielter Entrüstung ließ sich François von dem Windhund umwerfen, der ihm begeistert das Gesicht abschleckte, während die kleinere Hündin in Marguerites ausgestreckte Arme sprang.
»Ich habe aber keine Lust auf Latein«, sagte der kleine Junge und rollte über den Boden. »Ich will lieber mit Hapaguai spielen.«
Marguerite ließ die Arme sinken, worauf Prunelle nichts anderes übrig blieb, als auf den Boden zu springen, wobei sie enttäuscht kläffte, weil sie wieder zu ihrer Herrin auf den Arm wollte.
François und der Windhund wälzten sich voller Leidenschaft auf dem staubigen Boden herum. Wenn sie so ineinander verkeilt kaum noch Luft bekamen und beide versuchten, einen ruhmreichen Sieg davonzutragen, sah man ihnen an, wie sehr sie diese spielerischen Kämpfe genossen.
Marguerite versuchte ihren Bruder und den Windhund zu trennen, der allmählich über die Stränge schlug. François hatte ganz rote Backen und war so außer Atem, dass er kaum sprechen konnte.
»Die Aufgaben, die mir Monsieur Saint-Gelais gibt, sind viel zu schwierig«, keuchte er.
»Ich kann dir ja helfen«, versprach seine große Schwester und zog Hapaguai weg.
Widerwillig stand François auf und sah seine Schwester mit zusammengekniffenen Augen an. Mit seinem harmlos wirkenden runden Kindergesicht täuschte er oft seine Umgebung, weil niemand glauben wollte, dass er ständig auf der Lauer nach einem neuen Streich oder einem Witz lag.
Marguerite, die ein paar Jahre älter als er und von morgens bis abends mit ihm zusammen war, ließ sich allerdings nicht so leicht hinters Licht führen. Kein anderer als sie – auch nicht ihre Mutter – ahnte wie sie, welch empfindsames verletzliches Wesen sich hinter dieser scheinbar unbezähmbaren Fassade verbarg.
Marguerite war zwar genauso fröhlich wie ihr Bruder, von Natur aus aber nachdenklicher und gelehriger und deshalb nicht so uneinsichtig wie er, wenn es um ernste Angelegenheiten ging. Für François schien nichts wirklich wichtig, und so betrachtete er auch den Lauf der Dinge äußerst gelassen.
Begleitet von ihren Hunden liefen die beiden Kinder durch das Kastanienwäldchen, vorbei an den Nebengebäuden, in denen Stallungen und Hundehütten untergebracht waren, und rannten dann zum Westflügel des Schlosses hinauf, in dem das Studierzimmer lag.
Saint-Gelais kam die steinerne Haupttreppe herunter, auf der die großen Schalen mit Begonien standen, die zusammen mit den munter kletternden Rosen eine ganze Mauer erobert hatten. In der Türöffnung sahen sie die aufrechte Silhouette ihrer Mutter.
Die junge Frau erwartete sie dort mit einem heiteren und vertrauensvollen Lächeln auf den Lippen, die zwar ein wenig schmal, aber sehr schön geschwungen waren. Wegen ihrer aufrechten Haltung wirkte sie sehr groß, und sie war so anmutig wie die antiken Skulpturen, die rechts und links neben
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