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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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spulte er noch einmal alles ab, was ihm Alix anvertraut hatte.
    »Ja, dieses Einhorn habe ich nach einer Vorlage gemacht, die eine meiner Großmütter, die Buchmalerin war, auf Pergament gezeichnet hatte.«
    Jetzt sah ihn der junge Mann erstaunt an und riss die Augen auf wie ein kleiner Junge, der sich unbedingt an ein Bild erinnern will, das ihm besonders gut gefallen hat. Und als Mathias sah, dass er auf dem richtigen Weg war, fuhr er fort:
    »Diese Zeichnung hat mir meine Mutter gegeben.«
    Jacquou wurde blass, und seine Hände zitterten so, dass er die Kettfäden in Schwingung versetzte. Er musste den Hebebaum benutzen, damit niemand etwas bemerkte. Dann stand er auf und ging auf Mathias zu.
    »Ich mag Einhörner sehr«, sagte er, »und ich würde gern die Zeichnung sehen, die Euch inspiriert hat. Was haltet Ihr davon, wenn wir uns heute Abend treffen? Wenn Ihr nach der Arbeit wiederkommt, warte ich auf Euch.«
    Dann wandte er sich an den Vorarbeiter und sagte immer noch ganz ruhig: »Vielleicht sollte er sich bei Meister Pietro Melingue vorstellen. Ich habe gehört, dass dort zwei fähige Leute gesucht werden.«
    »Warum nicht?«, meinte dieser, ohne irgendetwas zu argwöhnen. »Trotzdem finde ich, er sollte es in allen Werkstätten versuchen.«
     
    Alix wollte sich nicht in der Stadt blicken lassen, ehe sie Jacquou gefunden hatte, weil sie viel zu sehr befürchtete, Coëtivy über den Weg zu laufen. Deshalb war sie in einer kleinen Herberge abgestiegen, die nicht viel hermachte und wo der berühmte Webermeister wohl kaum auftauchen dürfte. Aus Angst, ihm doch zufällig zu begegnen, verließ sie das Haus überhaupt nicht.
    Sie hatte den schmalen Tisch vor ihr Bett geschoben, weil es in ihrem engen Zimmer mit seinem kleinen vergitterten Fenster keinen Stuhl gab. Trotz der schlechten Beleuchtung saß Alix jeden Tag stundenlang auf dem Bett und zeichnete.
    Florine hatte ihr billiges Pergament besorgt, weil ihr das Jungfernpergament viel zu teuer war. Alix träumte von den Entwürfen des Malers Dürer und versuchte sie nachzuzeichnen.
    Irgendwie musste sie sich schließlich beschäftigen, damit die Zeit schneller verging. Deshalb wunderte sie sich auch nicht weiter, als sie Florine und Mathias an diesem Abend nicht sah. Sie löschte die Kerze früher als sonst, schlüpfte unter die kratzige Bettdecke und wartete auf den Schlaf.
    Mathias war wie verabredet noch einmal zur Werkstatt gegangen, hatte Alix aber nichts davon gesagt. Er traf dort so spät ein, dass außer Jacquou, der schon auf ihn wartete, niemand mehr da war. Sie hatten beide in etwa das gleiche Alter. Langsam gingen sie aufeinander zu und beäugten sich abwartend, wobei keiner etwas sagte.
    Wer mochte dieser junge Mann sein, fragte sich Jacquou und zitterte aus Angst vor einer schlechten Nachricht. Er brachte keinen Ton heraus, weil ihm die Kehle wie zugeschnürt war.
    »Alix schickt mich«, sagte Mathias schließlich und lächelte ihn freundlich an.
    Jacquou fuhr sich mit der Hand über die Stirn. In Erwartung einer schrecklichen Nachricht war er wie benommen vor Angst und nahm sein Gegenüber gar nicht richtig wahr.
    »Sie erwartet Euch in einem kleinen Gasthaus am Stadtrand«, sagte Mathias leise.
    Jacquou stieß einen Seufzer aus und schloss die Augen. Als er sie dann wieder öffnete, hatte Mathias den Eindruck, sie glänzten verdächtig nach Tränen.
    »Ich gehe Euch nach«, sagte Jacquou tonlos.
    Mathias hielt ihn am Arm fest.
    »Wir haben eine kleine Kutsche, die uns zu dem Gasthaus bringt.«
    Und tatsächlich wurden sie in einer ruhigen Seitenstraße von vier Mulis mit einem leichten Wagen erwartet. Jacquou hatte Amandine und Fougasse noch nie gesehen, die gerade lernten, wie man zu viert eine Kutsche zieht.
    Als er näher kam, tauchte ein weibliches Gesicht hinter dem Wagenfenster auf, und Jacquou fuhr zusammen.
    »Das ist nicht Alix, sondern Florine«, erklärte ihm Mathias vergnügt.
    Dann nahm er die Zügel, schnalzte mit der Zunge und die Kutsche fuhr los.
    »Ich bin Florine«, stellte sich die junge Frau vor. »Wir bringen Euch zu Alix. Sie wollte ihr Zimmer in dem Gasthaus nicht verlassen, weil sie solche Angst hat, sie könnte jemandem begegnen, der ihr wieder einen Strich durch die Rechnung macht.«
    Jacquou sah Florine an und schwieg.
    »Seit sie Euch sucht, hat sie diesen Coëtivy auf dem Hals.«
    »Ja, ich weiß«, sagte Jacquou bekümmert.
    »In Nantes, in Tours, in Lille! Dieses Ungeheuer ist einfach überall!«
    »Ich weiß«,

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