Die Seidenstickerin
Ludovico hat mich verführt, und ich habe ihn erobert. Wir haben uns aber nur zweimal geliebt. Dann hat sich alles gegen ihn gewendet. Dazu muss man wissen, dass er seine Verpflichtungen gegenüber dem Herzog von Orléans nicht eingehalten hat und dieser ihn in ganz Italien gejagt hat. Er musste aus Mailand fliehen, und ich habe ihn nur ein einziges Mal wiedergesehen. Du warst gerade geboren, und ich stand an deiner Wiege.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Constance mit eisiger Miene.
»Nichts«, log Isabelle, die sehr wohl wusste, dass sie nichts anderes sagen konnte, wenn sie den Zorn ihrer Tochter nicht erneut entfachen wollte. »Nichts.«
Jean war ebenfalls bewusst, dass sie diese Lüge retten würde.
»Er hat kein Wort gesagt! Und ich wusste nicht einmal, dass er fliehen würde.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er ist nicht mehr in Italien, wo ihn Louis XII. zu leicht hätte aufspüren können. Es heißt, er stehe unter dem Schutz von Maximilian von Österreich.«
Sie sah, dass ihre Tochter überlegte. Jetzt nach Österreich zu gehen, um ihren Vater zu suchen, kam ja wohl nicht in Frage. Außerdem schienen sie diese Offenbarungen irgendwie etwas beruhigt zu haben.
»Sehr gut! Du hast gewonnen«, sagte sie trocken, »ich gehe nicht nach Italien.«
»Aber wo gehst du denn hin?«, rief ihre Mutter, als sie sah, dass ihre Tochter mit schnellen Schritten zur Tür eilte.
»Ich reite aus.«
»Aber bleib in der Nähe.«
Constance gab keine Antwort. Die langen Ausritte ließ sie sich nicht nehmen. Ohne eine Geste, ein Wort oder einen Blick verschwand sie aus dem Zimmer.
Im Stall entdeckte sie Olivier, der neben Horace im frischen Stroh lag. Neben dem Pferd seines Bruders stand Salomé, ihre schöne graue Stute, die vor Freude laut wieherte, als sie ihre Herrin kommen sah.
»Kommst du mit?«, fragte Constance ihren Bruder.
»Wohin willst du denn?«
Das Mädchen zuckte die Schultern.
»Egal! Dahin, wohin mich Salomés Hufe tragen.«
»Dann willst du also weg?«, fragte Olivier erstaunt und richtete sich halb auf, um sie besser sehen zu können.
Seine Schwester hatte schon so oft von Flucht, Rebellion, Ausbruch und Weglaufen gesprochen, und er hatte sie schon so oft ungehorsam, widerspenstig und kühn erlebt – manchmal bot sie ihrer Mutter und sogar ihrem Vater Julien die Stirn -, dass er bei ihr mit allem rechnete.
»Aber nein, du Dummkopf!«, entgegnete sie und lächelte ihren Bruder an. »Ich reite nicht weiter als bis zum Kloster Saint-Maur.«
Und sie wusste ganz genau, warum sie ausgerechnet das sagte, die schlaue Constance! Es gab nichts, was Olivier lieber tat, als die Mönche im Kloster Saint-Maur zu besuchen.
Der Junge war ein Einzelgänger, ängstlich und von zurückhaltendem Wesen, außer wenn er mit Constance zusammen war, der er alles erzählte, was er auf dem Herzen hatte, und jeder wusste, dass er Priester werden wollte. Sein Hauslehrer, Abbé Martin, lobte ihn in den höchsten Tönen und hielt ihn für klug, fleißig und überlegt. Er war das genaue Gegenteil von Constance, die viel zu sprunghaft und wirklichkeitsfremd war, um sich zum Lernen zwingen zu lassen.
Beinahe hätte Olivier das Angebot angenommen; dann war ihm aber zum Glück doch eingefallen, dass Jean bei ihnen zu Gast war, der vielleicht sehr bald nach Rom reisen musste, ohne dass er noch ausführlich hätte mit ihm diskutieren können. Deshalb lehnte er dankend ab.
»Nächstes Mal«, antwortete er und stand auf. »Ich möchte mich lieber mit Jean unterhalten. Fährst du mit ihm nach Italien?«
»Nein«, sagte Constance.
Dann nahm sie Salomé am Zügel.
»Bis heute Abend, Brüderchen.«
Sie ging aus dem Stall, bestieg ihre Stute, ritt durch das Schlosstor, das von leuchtend grünem Efeu und bunt blühenden wilden Kletterpflanzen überwuchert war, und machte sich auf den Weg zum Wald von Douces.
Olivier ging zu seiner Mutter. Wie Constance war er groß für sein Alter, bewegte sich aber ungeschickter als sie und war äußerst zurückhaltend. Der junge Mann hatte die gleichen schönen blauen Augen und die gleichen vollen Lippen wie seine Mutter.
Isabelle lächelte, als sie ihren Sohn kommen sah. Jean saß neben ihr, und die beiden hatten noch ein wenig geplaudert.
»Warum bist du nicht mit deiner Schwester ausgeritten?«, fragte sie ihn und forderte ihn auf, sich neben sie zu setzen.
»Ich wollte mit dir sprechen, Jean.«
Er wandte sich zu ihm und sah ihn voller Inbrunst an. Wie hätte sich dieser junge Mann, der so
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