Die Seidenstickerin
boten.
Louise hob ihren Rocksaum und ging langsam die unebenen Stufen hinauf, die zum Schlossturm führten. Eine kühle Brise wehte ihr entgegen. In tiefen Zügen sog sie den Hauch der rötlich schimmernden Abenddämmerung ein, deren lange Strahlen auf den Fluss fielen, und sponn ihre Gedanken weiter.
Die Charente floss träge dahin und weckte Erinnerungen in ihr, die sie nicht aus ihrem Gedächtnis löschen wollte. Wie hätte sie auch diesen ruhigen, grauen Fluss vergessen sollen, dem sie einmal an einem heißen Sommermorgen fieberhaft gefolgt war, und der sie nicht etwa enttäuscht, sondern beglückt hatte.
Jetzt erinnerte sich Louise an eine Zeit, die nicht so weit zurücklag. Der glühende Horizont ergoss sich in einer erstaunlichen Palette von Scharlachtönen über den Fluss. Mit zwanzig Jahren verlebte Louise friedliche Tage im Kreise dieser fröhlichen Bande – der fünf Kinder des Grafen d’Angoulême.
Obwohl sie die menschlichen Vorzüge ihres Gatten schätzte, war Louise kaum in ihn verliebt. Wie hätte sie auch einen Mann lieben sollen, der so ungeniert von einer Frau zur nächsten ging?
Stattdessen schenkte sie ihre ganze Zärtlichkeit ihren Kindern Marguerite und François, die sie nach ihren Vorstellungen erzog – und niemand auf diesem verarmten, aber fröhlichen Schloss hatte dagegen etwas einzuwenden.
Klug und umsichtig wie sie war, konnte Louise in gutem Miteinander mit Antoinette und Jeanne leben, die nun beide Zofen waren, seit sie Gräfin d’Angoulême wurde, und denen sie nichts vorzuwerfen hatte. Die beiden Maitressen des Grafen zeigten sich sehr verständnisvoll, was die Verteilung der Nächte betraf, die darüber entschied, wer das Lager des Grafen teilen durfte.
Und die Beziehung zu den Töchtern ihrer beiden Zofen blieb harmonisch und liebevoll.
Jehanne, Antoinettes ältere Tochter, hatte man gerade an den Hof von Anne de Bretagne gerufen, die sich eben mit dem neuen König von Frankreich, Louis XII., wiederverheiratet hatte. Nicht dass Anne unbedingt ein Mädchen aus Angoulême in ihren Diensten haben wollte – eigentlich wählte sie dafür nur Bretoninnen aus; Jehanne war auf Ansuchen des Grafen d’Angoulême gerufen worden, des ehemaligen Kampf- und Weggefährten des Königs.
Von diesem Tag an war Antoinette, die große Angst gehabt hatte, es würde sich kein passender Mann für ihre Tochter finden, ganz erleichtert.
Ihre jüngere Tochter Madeleine war klug, anmutig und fleißig, las viel, spielte Laute und trug sehr gekonnt Gedichte vor. Louise hatte sie gern um sich, und wenn die beiden zusammen Musik oder Poesie machten, sprachen sie die gleiche Sprache, was ihre gegenseitige Zuneigung noch festigte. Waren sie nicht beide von dem Wunsch nach Wissen und Bildung beseelt?
Souveraine, die Tochter von Jeanne Conte, war erst zehn Jahre alt und spielte mit Begeisterung die kleine Mama des Säuglings François, dem man wegen seines unersättlichen Appetits zwei Ammen gegeben hatte, von denen eine die gute Dame Andrée war.
»Dame Louise!«, hörte sie jemanden nach sich rufen. »Meister Testard will Euch sprechen.«
Louise wandte sich um und sah Madeleine, an deren roten Backen und kurzem Atem man erkennen konnte, dass sie gelaufen war. Ihre blonden Locken waren unter der Samthaube hervorgerutscht, und ihre großen braunen Augen glänzten wie reife Kastanien und sahen sie zärtlich an.
»Ihr träumt ja, Dame Louise?«
»Du hast Recht, ich habe mich in alten Erinnerungen verloren. Schluss damit! Sollen sie bleiben, wo sie sind. Besser rührt man nicht mehr daran. Was will Meister Testard denn von mir?«
»Oh! Dame Louise, Ihr wisst doch, wie verrückt und unentschlossen er ist. Jetzt will er über bestimmte Zeichnungen für die Illuminierung des ›Dekameron‹ debattieren.«
»Meister Testard ist ein großer Künstler. Leider verliert er sich aber immer wieder in endlosen ästhetischen Betrachtungen. Deshalb kommt er auch nur schlecht vorwärts.«
Louise und Madeleine gingen die Treppe vom Schlossturm hinunter und hinten um das Schloss herum direkt in die große Bibliothek.
Hier fanden sie den Illuminierer und Koloristen Robinet Testard vor, der zusammen mit dem Organisten Imbert Chandelier ständiger Gast des Grafen d’Angoulême war.
Die Regale in der Bibliothek waren voll von kostbaren Büchern, seltenen Handschriften und unveröffentlichten Werken, die einen Teil der großen Sammlung des Ahnherrn Charles d’Orléans bildeten. Dieser gelehrte Dichter aus dem
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