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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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Hause Valois, den die Engländer mehr als zwanzig Jahre lang gefangen gehalten hatten, hatte seinen Nachkommen eine Unmenge an Gedichten und anderen poetischen Schriften hinterlassen.
    Louise vertiefte sich hier nach Lust und Laune in lateinische und griechische Werke und vervollkommnete so ihre bereits fortgeschrittenen Fähigkeiten in diesen Sprachen. Dass sie mit ihrem Wissen die beiden Zofen bei weitem überflügelte, war ihr durchaus bewusst und bereitete ihr das größte Vergnügen. Neben ihren übrigen Fähigkeiten war sie eben auch noch intelligent und gebildet.
    Meister Testard saß an dem großen Schreibtisch aus geschnitztem Holz, der von zwei scharlachroten Samtsesseln flankiert war.
    An der Schmalseite der Bibliothek befand sich der große ummauerte Kamin, vor dem die vorbereiteten Holzscheite lagen, mit denen das Feuer entfacht werden sollte. Von der großen Tür zog es nämlich bereits ziemlich kühl herein, weil sich die Flügel nicht mehr richtig schließen ließen. Man hätte sie reparieren müssen, was sich Charles aber nicht leisten konnte.
    Madeleine bückte sich und sammelte die Zeichnungen auf, die der Künstler zusammengeknüllt und auf den Boden geworfen hatte.
    »Seid Ihr denn nie mit Eurer Arbeit zufrieden, Meister Testard?«, fragte Louise und strich die Blätter glatt, die ihr Madeleine gegeben hatte.
    »Die Konturen sind nicht exakt. Und seht Euch nur einmal diesen Gesichtsausdruck an – er entspricht überhaupt nicht meinen Vorstellungen.«
    »Stellt Ihr nicht zu hohe Anforderungen an Euch, Meister Testard? Vielleicht zweifelt Ihr einfach zu viel an Eurer Arbeit? Wenn Ihr so weitermacht, wird das ›Dekameron‹ von Boccaccio nie fertig illuminiert!«
    »Oh!«, sagte Robinet Testard und riss die Augen mit Unschuldsmiene auf. »Habt Ihr es denn so eilig mit seiner Fertigstellung, Dame Louise, oder seid Ihr es vielleicht nur leid, mich in Eurem Schloss zu beherbergen?«
    »Aber nein, der Gedanke ist mir fern. Ihr bleibt, so lange es Euch gefällt. Lasst einfach Eurem Talent freien Lauf, und zeigt mir Eure anderen Zeichnungen.«
    Sie beugte sich über die Schulter des Illuminierers.
    »Ich finde, die Konturen sind viel besser, als Ihr glaubt. Mir scheint, Ihr habt es dringend nötig, dass Euch jemand Mut macht.«
    Die Antwort des Künstlers ging in dem Lärm am anderen Ende des Zimmers unter. Jemand schob geräuschvoll den dicken Behang von der kleinen Tapetentür zur Seite, die zwischen zwei byzantinischen Truhen versteckt war, die ein Vorfahre von einem Kreuzzug mitgebracht hatte.
    Louise und Madeleine sahen in die Richtung, aus der der Lärm kam, aber Testard blieb in seinen weitschweifigen Gedankengänge versunken. Eine alte Dame, die sich vorsichtig auf ihren Gehstock aus Olivenholz stützte, betrat die Bibliothek. Die zierliche, kleine Marguerite de Rohan mit ihrem kantigen, eingefallenen und vergilbten Gesicht, die einmal vor langer Zeit Jean de Valois, den Grafen d’Angoulême geheiratet hatte, war im fünfundzwanzigsten Jahr ihrer Witwenschaft.
    Duftige, weiße Locken sahen unter ihrer schwarzen Haube hervor, deren gestärkte Spitze auf einer Stirn mit tiefen Falten ruhte.
    Marguerite de Rohan war noch recht rüstig, und wenn sie auch keine Zähne mehr hatte, so leuchteten ihre Augen doch noch immer erstaunlich lebendig aus einem Gesicht, das aufmerksam an allem teilnahm, was sich auf dem Schloss abspielte. Ohnehin passte sie ganz genau auf die drei Frauen ihres Sohnes und die kleine Familie auf, die er gegründet hatte.
    »Kinderchen«, rief sie und hob ihren Stock, um mit der Spitze auf die beiden Frauen zu deuten, »habt Ihr schon gehört, dass unser lieber Louis d’Orléans, der neue König von Frankreich, den Grafen d’Angoulême zu sehen wünscht?«
    Schnell setzte sie den Gehstock auf den Boden zurück, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    »Es könnte sein, dass Euch Euer Gatte lange allein lassen muss, meine Tochter«, fuhr sie an Louise gewandt fort. »Es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn er bei seinem Cousin Unterschlupf suchen würde.«
    »Haltet Ihr die Lage für gefährlich, Mutter?«
    »Die Generalstände sind gerade erst wieder konstituiert worden, nachdem der König, der Bruder von Anne de Beaujeu, tot ist; sie könnte durchaus argwöhnen, dass Charles einen Aufstand von seiner Grafschaft aus anzetteln will.«
    Louise trat zu ihrer Schwiegermutter und sah sie freundlich an, während sie bewusst heiter sagte:
    »Es gibt doch aber gar keinen Grund zur

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