Die seltene Gabe
reagierte nicht, sondern starrte seinerseits nur reglos zurück.
Da kam hinter dem hageren Mann ein kleiner rothaariger Junge herein, den ich sofort wieder erkannte: Pierre, der Gedankenleser. Hinter ihm tauchten zwei hünenhafte Männer auf, wohl seine Leibwache. Pierre sagte etwas auf Französisch, das ich nicht verstand, das aber sehr höhnisch klang, und Armand fauchte irgendetwas Verletzendes zurück, und im Nu war zwischen den beiden ein wütendes Wortgefecht im Gange. Der Hagere gab den beiden Leibwächtern einen Wink, worauf sie Pierre wortlos an den Armen packten und ihn mit sich zur Tür hinauszerrten, während er schrie und strampelte. Der Mann wandte sich derweil wieder an Armand und redete eine Weile auf ihn ein, und obwohl ich das meiste nicht mitbekam, verstand ich doch so viel, dass Julien gefunden worden und abgesehen von ein paar blessures wohlauf war. Außerdem war natürlich alles umstellt und gesichert und jeder Gedanke an Flucht chancenlos. Schließlich bückte sich Armand schwerfällig nach seinen Klamotten und begann, sich anzuziehen. Jetzt erst schien der Hagere auch mich wahrzunehmen. Er musterte mich mit einem Blick, bei dem mir unbehaglich zu Mute wurde. »Eh bien, Marie«, sagte er seufzend und mit ausgeprägt französischem Akzent, »was machen wir mit Ihnen?« Ich war etwas verdutzt, dass er meinen Namen kannte, aber vermutlich war das keine Kunst für jemanden, der erstens eine Geheimdienstabteilung befehligte und zweitens Gedankenleser zu seinen Mitarbeitern zählte. »Sie hat nichts damit zu tun«, warf Armand ein. »Ich habe sie gezwungen mit mir zu gehen.« Der Hagere warf einen anzüglichen Blick über unsere Kleidungsstücke, die überall unordentlich herumlagen, und meinte trocken: »Oui, man sieht es.« Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, als Armands Freundin und Komplizin werden Sie uns begleiten müssen. Ziehen Sie sich an.« Seinen Leuten bedeutete er Armand hinauszuführen. Ich protestierte energisch, ich dächte überhaupt nicht daran, auch nur unter der Bettdecke hervorzukommen, geschweige denn mich anzuziehen, solange lauter Männer im Zimmer herumstanden. Wobei meine Entrüstung nur zum Teil gespielt war, denn mal ehrlich: Mit welchem Recht nahmen sich diese Leute hier eigentlich solche Unverschämtheiten heraus? Aber da geriet ich bei dem Hageren an den Falschen. Er sah mich an, als sei ich ein besonders seltener Schmetterling, den er auf eine Nadel zu spießen die Absicht hatte. »Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um sich in Empfindlichkeit zu üben, junges Fräulein«, erklärte er mit gefährlich wirkender Ruhe, »und wir sind auch nicht in der Stimmung, besonders höflich zu sein.« Mit einer beiläufigen Handbewegung schickte er ungefähr die Hälfte seiner Männer hinaus. »Alors, und jetzt ziehen Sie sich an, sonst kommen Sie so mit, wie Sie sind.«
Wütend angelte ich mir meine Sachen und zog mich so schnell an wie selten in meinem Leben. Der Hagere und auch die meisten seiner Revolvermänner schienen überhaupt nicht auf den Gedanken zu kommen, höflich beiseite zu sehen. Als ich einigermaßen fertig angezogen war, nahmen mich zwei Männer in Lederjacken in ihre Mitte, als sei ich eine weiß der Himmel wie gefährliche Schwerverbrecherin, und führten mich auch hinaus. Ich staunte nicht schlecht, was rings um das kleine Gartengrundstück los war, das in der Nacht so still, einsam und verträumt im Niemandsland gelegen hatte. Auf den ersten Blick sah die Szenerie aus wie eine Jagdgesellschaft. Wenigstens drei Dutzend Männer standen weiträumig um das Haus verteilt, in dunkelgrüne Joppen oder Regenmäntel gekleidet, und jeder von ihnen trug ein Gewehr locker in der Armbeuge, als warteten sie nur noch auf die Ankunft der Hundemeute. Doch auf den zweiten Blick entdeckte man, dass sie alle Stöpsel im Ohr und ein Mikrofon vor dem Mund trugen und einen halben Elektronikladen am Gürtel. Auch die Lastwagen, die den Feldweg auf beiden Seiten blockierten, passten nicht recht ins Bild, genauso wenig wie die vier dunklen Limousinen, die auf dem Stück Asphalt dazwischen standen, ordentlich hintereinander wie die Wagenkolonne für einen Staatsempfang. Eines der Autos wartete mit geöffnetem hinterem Wagenschlag und ich sah, dass Armand schon auf dem Rücksitz saß, mit einem Bewacher zwischen sich und der anderen Tür. Man bedeutete mir einzusteigen. Ich blieb störrisch stehen. »Unsere Taschen«, sagte ich. »Die müssen noch im Haus sein. Ich gehe nicht
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