Die Shakespeare-Morde
zu erwachen.
»Kennen Sie das Wappen?«,
fragte der Rektor.
»Derby«, flüsterte
ich.
»Derby«,
wiederholte er. »Pater Shelton bekam es vom Grafen von Derby
geschickt.«
»Der sechste Graf von
Derby«, sagte ich. »Noch ein William.«
In der Stille, die folgte,
dehnte sich der Raum, und die Bücher schienen sich in ihren Fächern
vorzubeugen und zu lauschen.
»My name is Will«,
murmelte Ben.
»William Stanley Graf
von Derby«, spezifizierte ich.
»Stanley?«,
wiederholte Sir Henry ungläubig. »Wie in …«
»Wie in W. S.«,
sagte Ben.
Es klopfte an die Tür,
und ich erschrak. »Herein«, sagte der Rektor. Ein junger
Priester steckte den Kopf durch die Tür. »Ein Anruf für
Sie, Monsignor.«
»Machen Sie mir eine
Notiz.«
»Es ist Seine Exzellenz
der Erzbischof von Westminster.«
Der Rektor murmelte etwas,
dann entschuldigte er sich.
»Das gefällt mir
nicht«, sagte Ben, als die Tür wieder zu war. »Tun Sie,
was Sie tun müssen, und dann gehen wir.«
In der Ecke stand ein alter
Kopierer. Ich schaltete ihn an, und er erwachte summend zum Leben. Als er
sich aufgewärmt hatte, schlug ich die Folio auf.
»Stanley?« Sir
Henry sah mich funkelnd an.
»Keine Verwandtschaft«,
sagte ich kurz, während ich das Buch auf der Suche nach irgendwelchen
Zeichen durchblätterte - Randbemerkungen, Kritzeleien, unterstrichene
Wörter, Unterschriften.
»Mit dir oder mit
Shakespeare?«, hakte Sir Henry nach. »Sag mir bitte, mit
keinem von beiden.«
Ich erreichte das Ende der
Folio, ohne etwas zu finden. Das einzig Interessante war Derbys Wappen auf
dem Einband. »Keine Verwandtschaft mit mir«, sagte ich
genervt. »Ich kann auch nichts dafür, wenn Derby plötzlich
Außenseiterchancen hat, Shakespeare zu sein … Du hast selbst
gefragt«, setzte ich nach, als Sir Henry fluchte.
Ich blätterte das Buch
noch einmal durch, diesmal langsamer, und erläuterte unterdessen, was
für Derby sprach. Gebildet, athletisch und adlig, war William
Stanley, der sechste Graf von Derby, ein perfekter Kandidat für den,
der Shakespeares Werke eigentlich geschrieben haben könnte. Sein
Vater und älterer Bruder unterhielten beide berühmte
Schauspielertruppen, und so wuchs er buchstäblich mit dem Theater
auf. Auch wenn er offiziell Protestant war, saß die Hausmacht seiner
Familie in Lancashire, einer Bastion des alten katholischen Glaubens. Er
war ein guter Musiker und liebte die Jagd und die Falknerei. Er gab viel
Geld aus, war ein leidlicher Jurist und bereiste Europa. Er heiratete die älteste
Tochter des Grafen von Oxford, und die junge Ehe ging unter dem Einfluss
eines boshaften Leutnants beinahe in die Brüche. Derby war ein Förderer
und Schüler von John Dee, dem historischen Magier, an den
Shakespeares großer Zauberer Prospero angelehnt ist.
»Und er schrieb
Theaterstücke«, schloss ich. »Zumindest gibt es das
Zeugnis eines Spions der Jesuiten, der das behauptet.«
»Die Jesuiten hatten
auch Spione?«, fragte Sir Henry konsterniert.
»Sie haben ihn
geschickt, um herauszufinden, ob sich Derby zum Anführer einer
katholischen Revolte eignen könnte. Doch der Spion meldete, dass
Derby wenig von Nutzen sei, da er die Zeit damit vergeude, ›Comödien
für gemeine Schauspielen zu verfassen.«
»Ach du meine Güte«,
sagte Ben. »Hast du etwas von ihm gelesen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Seine Stücke sind verschollen. Der Brief des Spions dagegen
wurde abgefangen und sorgfältig in den Regierungsarchiven aufbewahrt.
Welche Ironie.«
»Also scheint Derbys
Kandidatur so denkbar wie Oxfords«, sagte Ben.
»Sogar noch besser.«
»Du meinst, wegen
seines Vornamens?«, spottete Sir Henry. »In England heißt
jeder fünfte Junge William.«
»Auch wegen der
Geografie«, sagte ich. »Derby kommt aus einer Gegend, die zu
dem Dialekt in Shakespeares Stücken passt; Oxford nicht. Außerdem
war Derby ein netterer Mensch als Oxford. Er scheint seine Freunde
jedenfalls nie wegen Hochverrats verpfiffen zu haben. Und vor allem
stimmen seine Lebensdaten. Anders als Oxford lebte Derby während der
ganzen Zeit, in der die Stücke entstanden sind.«
»Aber wenn Derby so
perfekt ist, warum hat er dann nur eine Außenseiterchance?«,
fragte Ben.
Wieder hatte ich das Ende des
Bandes erreicht, ohne etwas zu finden. Frustriert klappte ich das Buch zu.
»Alles spricht für Derby,
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