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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Der Boden
     war trocken und sandig, und dann und wann lagen große Felsbrocken
     auf dem Weg. Eine Weile lang wurden die blanken Felswände nur hier
     und da von einem mit Gestrüpp bewachsenen Vorsprung unterbrochen.
    Schließlich machte Mr
     Jiménez in einem breiten grasigen Kessel halt, dessen oberes Ende
     im Westen durch einen Absturz riesiger Felsen verengt wurde. »Das
     ist der Timon-Claim«, sagte er und stieg ab. Wie er angekündigt
     hatte, gab es kein Anzeichen, dass hier je gearbeitet wurde. An den Hängen
     wuchsen groteske Pflanzen mit dünnen Ästen wie Fangarme, die
     aussahen wie mit der Spitze in den Boden gerammte Kegel. Ansonsten war der
     trockene Boden von kleinen dunkelgrünen Agaven übersät,
     deren Blätter scharf wie Pfeilspitzen waren. Ocotillos und
     Schottenagaven. »Keiner zu Hause«, sagte Mr Jiménez. »Bis auf die
     Adler und Berglöwen hier oben, seit sie die Apachen vertrieben haben.«    
    Ein gellendes »Yup-yup-yup«
     hallte von den Felswänden wider. Weit oben am Himmel segelte ein
     riesiger Vögel auf unsichtbaren Winden. Ein Goldadler. Der Himmel war
     längst strahlend blau, doch der Canyon lag immer noch im blassen
     Schlaf der Dämmerung. Vor unseren Augen ergoss sich der Morgen über
     den Rand der Klippen wie flüssiges Gold.      
    Weiter oben hörte ich
     ein Zwitschern und sah einen Vogelschwarm, der in seltsam zackigem Flug
     den Canyon herunterkam. Dann hörte ich einen schrillen Schrei. Direkt
     vor uns schwenkte der Schwarm ab, erhob sich wirbelnd in die Lüfte,
     dann versank er in einer schwirrenden Spirale im Boden.
    Es waren keine Vögel,
     stellte ich fest. Es waren Fledermäuse. Fledermäuse, die im
     Boden verschwanden. Das Schwirren der Spirale wurde schneller. Dann waren
     sie fort.
    Ich sah Mr Jiménez an.
     »Da oben sind Höhlen.«
    »Keine Stollen«,
     sagte Mr Jiménez leise. »Höhlen gibt es. Manchmal hörst
     du es beim Reiten - wenn die Hufe hohl klingen.«
    »Wusste Athenaide
     davon?«
    Er zuckte die Achseln.
     »Sie hat nur nach Stollen gefragt.«
    Ich ging auf die Stelle zu,
     wo die Fledermäuse verschwunden waren. Hinter ein paar kleinen
     Mesquite-Sträuchern und anderen niedrigen Büschen war eine
     Grube. Als ich das Gestrüpp zur Seite zog, entdeckte ich ein Loch,
     nicht größer als mein Kopf. Ein feuchter, moderiger Geruch
     schlug mir entgegen, der etwas Stechendes hatte.
    Matthew, der sich über
     meine Schulter beugte, rümpfte die Nase. Mr Jiménez schob den
     Hut zurück und kratzte sich am Kopf. »Hol mich der … Wie
     gesagt, ich hab gewusst, dass es hier oben Höhlen gibt. Aber ich hab
     nie einen Eingang gesehen.«
    Ich auch nicht. Doch ich
     hatte genug gehört, um zu wissen, was wir hier vor uns hatten.
     »Jetzt sehen Sie einen.«
    »Eingang scheint mir
     übertrieben«, sagte Matthew, »wenn man größer
     ist als eine Maus mit Flügeln.«
    »Wart’s ab.«
    Mr Jiménez nickte,
     dann ging er zu den Maultieren zurück und schnallte einen Spaten und
     ein paar Brecheisen vom Sattel ab. Beim ersten Spatenstich hörten wir
     ein wütendes Rasseln, und in dem Moment, als Mr Jiménez mich
     zur Seite riss, schoss eine alte Klapperschlange vor und hieb ihre Zähne
     an der Stelle in den Boden, wo ich eben noch gestanden hatte. Ein paar
     Augenblicke später glitt sie aus dem Loch und war in den Büschen
     verschwunden.
    Mit fasziniertem Ekel sah ich
     ihr hinterher. Kleopatra, dachte ich. Gestern Nacht hatte Sir Henry
     versucht, mich in Polonius zu verwandeln; doch stattdessen hatte ich ihn
     getötet. Wie passend wäre es, wenn ich zur Strafe zufällig
     starb - auf die gleiche Weise wie eine von Shakespeares Königinnen?
    »Sind da, wo das Vieh
     herkam, noch mehr davon?«, fragte Matthew nervös.
    Mr Jiménez spuckte auf
     den Boden. »Unwahrscheinlich. Falsche Jahreszeit zum Nisten. Außerdem,
     wir haben den Kerl geärgert, und er ist rausgekommen. Hätte er
     Gesellschaft gehabt, wäre die auch mit rausgekommen.«
    Ich hätte damit rechnen
     müssen, dachte ich grimmig. Wenn ich in diese Höhle hinabstieg,
     musste ich sehr viel vorsichtiger sein, falls ich lebendig wieder
     rauskommen wollte.
    Der Boden um das Loch war
     relativ locker. Trotzdem war es harte Arbeit, Steine und Erde abzutragen.
     Es dauerte zwei Stunden, bis die Öffnung groß genug war, dass
     Matthew hinuntersteigen konnte. Darunter gähnte ein Spalt oder Kamin
     im massiven Fels. Matthew kletterte ein Stück hinein, dann kam er

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