Die Shakespeare-Morde
Helfern, die ihn im Rahmen seiner
unermüdlichen Arbeit als Sammler von Volksgut angeschrieben hatten:
die Dichter Longfellow und Lowell, einer der Gebrüder Grimm, der
Philosoph William James. Dazwischen gab es einen nicht versiegenden Strom
heiterer Briefe von seiner Frau Elisabeth. Nichts davon bot sich als Stoff
für Ros’ Erleuchtung an.
Der Mann mit dem Hundeblick
streckte sich und ließ die Fingerknöchel knacken. Die Wanduhr
hinter ihm war bereits zwei Stunden vorgerückt. Ich beugte mich
wieder über meine Arbeit.
Tief unten in der dritten
Kiste überflog ich gerade den nächsten kernig-fröhlichen
Bericht von Elisabeths Sommerfrische mit den Kindern in Maine, als ich
über eine Seite stolperte, die nicht zur vorherigen zu passen schien.
»Die Kleinen spielten
draußen, pflückten Brom-«, endete die eine Seite. Doch
als ich umblätterte, begann die nächste Seite mit den Worten:
»Ich habe etwas entdeckt.« Die Worte, die Ros benutzt hatte.
Ich suchte Bens Blick, doch
er war tief versunken in ein Büchlein, das wie ein wettergegerbtes
Tagebuch aussah.
Ich legte die beiden Seiten
nebeneinander. Die zweite Seite stammte nicht von Elisabeth Child, auch
wenn die krakelige Handschrift Elisabeths Schrift seltsam ähnlich
sah, genau wie das Papier und die verblasste blaue Tinte. So ähnlich,
dass sie bei flüchtigem Hinsehen als Seiten desselben Schreibens
durchgehen konnten. Doch nicht bei näherer Betrachtung.
Ich habe etwas entdeckt,
das, wie ich glaube, für einen Connaisseur wie Sie von Interesse sein
könnte, und im Vertrauen darauf, daß nicht alles gleißt,
was Gold ist, sogar möglicherweise von großem Werth.
Ich fuhr mir mit der Zunge
über die Lippen und hatte wieder Ros’ Stimme im Ohr: Ich habe
etwas entdeckt. Ich brauche deine Hilfe, Kate. Ich las weiter.
Es handelt sich um ein
Manuscript. Ich glaube, es wurde in englischer Sprache verfaßt -
zumindest habe ich einzelne englische Worte wiedererkannt-, und die antike
Ausgabe des Don Quixote, in der ich es fand, ist eine englische Übersetzung.
Leider ist die Handschrift zum großen Theil unleserlich, selbst die
Stellen, die nicht von der Zeit so fleckig oder verblaßt sind, daß
man sie nicht mehr entziffern kann. Es war mir immerhin möglich, mit
einigermaßen vernünftiger Eindeutigkeit den Titel zu
reconstruiren - bis auf den ersten Buchstaben, den ich, wie ich
eingestehen muß, noch nie gesehen habe. Es ist eine Art
durchgestrichene Spirale. Ich hatte es für Griechisch gehalten, doch
die folgenden Buchstaben stammen aus dem lateinischen Alphabet, -ardeno,
glaube ich. Oder womöglich -ardonia?
Ich runzelte die Stirn. Der
seltsame Buchstabe war nicht griechisch. Er stammte aus einer alten
elisabethanischen Kursivschrift: das große C der sogenannten
Secretary Hand. Was aus dem Titel ›Cardeno‹ oder ›Cardonia‹
machte.
Der Ausdruck kam mir bekannt
vor. Ich hatte ihn irgendwo gelesen … Ein Name. Aber wovon? Einer
Person oder einem Ort? Je mehr ich meine Erinnerung durchforstete, desto
verschwommener wurde der Begriff, bis er sich schließlich im weichen
grauen Nebel des Vergessens auflöste. Vielleicht konnte der Brief
Aufschluss geben. Hastig las ich die Seite zu Ende.
Ich habe es an einem
sicheren Ort hinterlegt. An derselben Stelle, wo es ungesehen und ungestört
überdauert hat, seit es, nicht lange nach seiner Schöpfung,
verloren ging. Doch ich befinde mich in einer vertrackten Lage. Ich würde
es gerne an mich nehmen und von einem Experten schätzen lassen. Doch
ich kenne weder Namen noch Ort einer solchen Autorität hier, an
diesem rauhen Ende der Civilisation. Ebensowenig wüßte ich, wie
ich den Gegenstand seinem derzeitigen Platz entreißen könnte,
ohne seine Zerstörung zu riskieren - er ist empfindlich, und ich fürchte,
die harte Reise auf dem Pferderücken und in der Eisenbahn würde
ihm zusetzen, umso mehr eine Seereise.
Einer der Knaben hier
behauptet, er sei - »vor vielen Jahren« - Ihr glühender
Schüler gewesen, und er erzählt, Ihr Blick, Sir, sei von
wunderbarer Weisheit, vor allem wenn es um Räthsel literarischer
Natur geht. Ich wäre Ihnen ewig dankbar, wenn Sie mir in dieser Sache
Rath angedeihen lassen könnten. Wenn Sie darüber hinaus eine
Wette eingehen möchten, ob sich die Mühe am Ende auszahlen könnte
für einen Spieler, bin ich,
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