Die Shakespeare-Morde
hinein und zog eine Wildlederjacke
über. »Fertig.«
Dann verließen wir das
Hotel und machten uns auf den Weg zur Houghton-Bibliothek.
13
Die Widener-Bibliothek war
immer noch von Polizei und Feuerwehr umstellt. Schaulustige verrenkten
sich den Hals, um über die Barrikaden ins Innere der Bibliothek zu spähen,
doch dort war es zu dunkel, um durch die Türen irgendetwas zu
erkennen. Ben und ich mischten uns unter das Volk und ließen uns zu
dem kleineren eleganten Backsteinpalast nebenan treiben: der Houghton
Library.
Das einzige Zugeständnis
an das nächtliche Unglück direkt nebenan war, dass man die Wache
verdoppelt hatte - von einem auf zwei Männer. Als sie uns kommen hörten,
sahen sie von ihren Zeitungen auf und nickten uns leutselig zu. Einer wies
mir ein Schließfach zu, der andere ging meine Tasche durch. »Sie
wissen, dass das Schließfach offen bleiben muss«, erklärte
der erste. »Abschließen ist verboten heutzutage.«
Ich deponierte alles bis auf
einen gelben Notizblock und den Chambers. Das Buch würde ich um
nichts in der Welt aus den Augen lassen, erst recht nicht in einem
unverriegelten Schließfach. Dann ging ich mit Ben zu der
taubenblauen Flügeltür am Ende des Flurs und klingelte.
Zwei Sekunden später
öffnete sich die Tür mit einem leisen Summen.
Der Lesesaal war ein großer,
luftiger Raum mit hohen, schmalen Fenstern, die das helle Sommerblau des
Himmels hereinließen. In der Mitte standen lange Reihen von großen
polierten Tischen, an denen eine kleine Schar von Studenten gebückt
über verstreuten Papieren saß. Ich steuerte einen freien Platz
an und legte meine Sachen ab. Ben setzte sich neben mich. Der Mann am
nächsten Tisch sah uns mit triefendem Hundeblick vorwurfsvoll an, als
hätten wir ihm die Sicht versperrt. Ich füllte einen
Bestellzettel aus - MS Am 1922. Francis J. Child. Korr. - und gab ihn bei
einem mürrischen Mann am Schalter ab, dann nahm ich mir einen
Bleistift, setzte mich hin und wartete. Früher war dieser Ort für
mich wie ein warmer Kokon gewesen; heute fühlte ich mich nackt und
verwundbar. Wer weiß, vielleicht war der Mörder bereits hier im
Saal.
Ben stand auf und schritt die
Gänge ab, scheinbar, um einen Blick auf die Referenzwerke zu werfen.
Er ging jedes Detail des Saals und der Menschen durch. Auf der Suche nach
möglichen Gefahren, dachte ich, und zweifellos nach einem Fluchtweg.
Ich versuchte mich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Wonach
suchte ich? Was hatte Ros in Childs Schriften gesucht? Würde ich es
erkennen, wenn ich es vor mir hatte?
Ben verschwand in der
Galerie, die die Houghton- und die Widener-Bibliothek miteinander verband.
Der Übergang war auf beiden Seiten mit Karteikartenschränken und
Computern vollgestellt, die den alten und den neuen Houghton-Katalog
enthielten. Zu meiner Überraschung hatte er einen Bestellzettel in
der Hand, als er zurückkam. Er gab ihn am Schalter ab, dann setzte er
sich neben mich.
Fünfzehn zermürbende
Minuten später schoben zwei Bibliothekare mit versteinerten Mienen
einen Wagen herein, auf dem sich vier Kisten mit Archivmaterial stapelten.
Obenauf lag ein Paar dünne weiße Baumwollhandschuhe. Am nächsten
Tisch seufzte der Mann mit dem Hundeblick, als würde das Gewicht all
der Kisten auf ihm lasten. Eine Sekunde lang fragte ich mich, ob er uns
beobachtete. Doch das war lächerlich, nein, paranoid: Der Mann war
vor uns hier gewesen.
Ich streifte die Handschuhe
über, dann öffnete ich den Deckel der ersten Kiste und ging an
die Arbeit.
Die Briefe waren
katalogisiert und durchnummeriert, doch wenn es um Recherche ging, glaubte
Ros sowohl an Gründlichkeit als auch an Glück: Anscheinend hatte
sie es nicht für nötig gehalten, mir einen konkreten Hinweis zu
geben - etwa die Referenznummer des Briefes, der ihr Geheimnis enthielt.
Der Löwenanteil guter wissenschaftlicher Arbeit, sagte sie, bewege
sich mit dem Tempo der Evolution einer neuen Spezies. Leider hatte ich
keine Zeit für den Luxus, gute wissenschaftliche Arbeit zu leisten.
Stattdessen überflog ich Seite für Seite der Wirrungen und
Triumphe im Leben eines fremden Mannes und war mir bei jedem Umblättern
bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wonach ich suchte. Wenn ich zu
schnell las, konnte ich es leicht übersehen.
Die Briefe stammten nicht von
Child; es waren Briefe von Kollegen und
Weitere Kostenlose Bücher