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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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hinein und zog eine Wildlederjacke
     über. »Fertig.«
    Dann verließen wir das
     Hotel und machten uns auf den Weg zur Houghton-Bibliothek.

 
    13
    Die Widener-Bibliothek war
     immer noch von Polizei und Feuerwehr umstellt. Schaulustige verrenkten
     sich den Hals, um über die Barrikaden ins Innere der Bibliothek zu spähen,
     doch dort war es zu dunkel, um durch die Türen irgendetwas zu
     erkennen. Ben und ich mischten uns unter das Volk und ließen uns zu
     dem kleineren eleganten Backsteinpalast nebenan treiben: der Houghton
     Library.
    Das einzige Zugeständnis
     an das nächtliche Unglück direkt nebenan war, dass man die Wache
     verdoppelt hatte - von einem auf zwei Männer. Als sie uns kommen hörten,
     sahen sie von ihren Zeitungen auf und nickten uns leutselig zu. Einer wies
     mir ein Schließfach zu, der andere ging meine Tasche durch. »Sie
     wissen, dass das Schließfach offen bleiben muss«, erklärte
     der erste. »Abschließen ist verboten heutzutage.«
    Ich deponierte alles bis auf
     einen gelben Notizblock und den Chambers. Das Buch würde ich um
     nichts in der Welt aus den Augen lassen, erst recht nicht in einem
     unverriegelten Schließfach. Dann ging ich mit Ben zu der
     taubenblauen Flügeltür am Ende des Flurs und klingelte.
    Zwei Sekunden später
     öffnete sich die Tür mit einem leisen Summen.
    Der Lesesaal war ein großer,
     luftiger Raum mit hohen, schmalen Fenstern, die das helle Sommerblau des
     Himmels hereinließen. In der Mitte standen lange Reihen von großen
     polierten Tischen, an denen eine kleine Schar von Studenten gebückt
     über verstreuten Papieren saß. Ich steuerte einen freien Platz
     an und legte meine Sachen ab. Ben setzte sich neben mich. Der Mann am
     nächsten Tisch sah uns mit triefendem Hundeblick vorwurfsvoll an, als
     hätten wir ihm die Sicht versperrt. Ich füllte einen
     Bestellzettel aus - MS Am 1922. Francis J. Child. Korr. - und gab ihn bei
     einem mürrischen Mann am Schalter ab, dann nahm ich mir einen
     Bleistift, setzte mich hin und wartete. Früher war dieser Ort für
     mich wie ein warmer Kokon gewesen; heute fühlte ich mich nackt und
     verwundbar. Wer weiß, vielleicht war der Mörder bereits hier im
     Saal.
    Ben stand auf und schritt die
     Gänge ab, scheinbar, um einen Blick auf die Referenzwerke zu werfen.
     Er ging jedes Detail des Saals und der Menschen durch. Auf der Suche nach
     möglichen Gefahren, dachte ich, und zweifellos nach einem Fluchtweg.
     Ich versuchte mich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Wonach
     suchte ich? Was hatte Ros in Childs Schriften gesucht? Würde ich es
     erkennen, wenn ich es vor mir hatte?
    Ben verschwand in der
     Galerie, die die Houghton- und die Widener-Bibliothek miteinander verband.
     Der Übergang war auf beiden Seiten mit Karteikartenschränken und
     Computern vollgestellt, die den alten und den neuen Houghton-Katalog
     enthielten. Zu meiner Überraschung hatte er einen Bestellzettel in
     der Hand, als er zurückkam. Er gab ihn am Schalter ab, dann setzte er
     sich neben mich.
    Fünfzehn zermürbende
     Minuten später schoben zwei Bibliothekare mit versteinerten Mienen
     einen Wagen herein, auf dem sich vier Kisten mit Archivmaterial stapelten.
     Obenauf lag ein Paar dünne weiße Baumwollhandschuhe. Am nächsten
     Tisch seufzte der Mann mit dem Hundeblick, als würde das Gewicht all
     der Kisten auf ihm lasten. Eine Sekunde lang fragte ich mich, ob er uns
     beobachtete. Doch das war lächerlich, nein, paranoid: Der Mann war
     vor uns hier gewesen.
    Ich streifte die Handschuhe
     über, dann öffnete ich den Deckel der ersten Kiste und ging an
     die Arbeit.
    Die Briefe waren
     katalogisiert und durchnummeriert, doch wenn es um Recherche ging, glaubte
     Ros sowohl an Gründlichkeit als auch an Glück: Anscheinend hatte
     sie es nicht für nötig gehalten, mir einen konkreten Hinweis zu
     geben - etwa die Referenznummer des Briefes, der ihr Geheimnis enthielt.
     Der Löwenanteil guter wissenschaftlicher Arbeit, sagte sie, bewege
     sich mit dem Tempo der Evolution einer neuen Spezies. Leider hatte ich
     keine Zeit für den Luxus, gute wissenschaftliche Arbeit zu leisten.
     Stattdessen überflog ich Seite für Seite der Wirrungen und
     Triumphe im Leben eines fremden Mannes und war mir bei jedem Umblättern
     bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wonach ich suchte. Wenn ich zu
     schnell las, konnte ich es leicht übersehen.
    Die Briefe stammten nicht von
     Child; es waren Briefe von Kollegen und

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