Die Shakespeare-Morde
»Heiße
Torten unter den Pforten! Süßes für die Süßen!«
Der Sketch kam
schenkelklopfend zum Ende. Gierig nach Applaus und Pfiffen begannen die
Schauspieler eine Gigue zu tanzen. Irgendwo ertönte eine Trompete,
und dann tanzte die Truppe durch die Bäume davon, ohne aus dem Takt
zu geraten, und verschwand in den offenen Toren des Theaters. Das Publikum
erhob sich, klopfte sich die Kleider ab und folgte ihnen.
Ein paar Minuten später
standen wir in der hereinbrechenden Dunkelheit ganz allein auf der Wiese.
Ich zeigte auf eine grasige Senke mit einem kleinen Haus, das weniger im
Neo-Tudorstil gehalten als der echten Tudorzeit nachempfunden war: Es war
die exakte Kopie von Shakespeares Geburtshaus in Stratfordupon-Avon, bis
hin zum blassen Mausgrau der Wände und dem strohgedeckten Dach.
»Das ist es«, sagte ich zu Ben. »Das Utah Shakespeare
Archive.«
Es war noch schöner, als
ich es in Erinnerung hatte. Alte Steinstufen führten in die Senke
hinunter und an einem kleinen Teich vorbei, über den sich eine
Trauerweide beugte. Den Park hatte es damals noch nicht gegeben. Auch die
Blumen nicht, die in der Dämmerung immer noch leuchteten. Wie in den
Gärten englischer Cottages waren sie zu dichten Stauden gepflanzt,
doch die Sorten gehörten hierher, in den gebirgigen Westen - Akelei,
Castilleja und Rittersporn. Am Rand des Teichs schillerte ein Koi, magisch
wie der Schwanz einer Meerjungfrau. Ich blieb stehen.
Seit ich heute Morgen,
viertausend Kilometer weiter östlich, im Harvard Book Store das
kleine Haus aus meinen Erinnerungen gegraben hatte, hatte ich alles
darangesetzt, so schnell wie möglich hierherzugelangen. Jetzt, als
ich fast da war, zögerte ich. Solange ich hier draußen unter
der Trauerweide stand, gab es zumindest die Möglichkeit, dass die
Antwort, die ich suchte, direkt dort, am anderen Ufer des Teiches, hinter
der dicken Eichentür wartete. Wenn ich hineinging, könnte ich
herausfmden, dass ich mich irrte.
Während ich dort stand,
ging der prachtvolle Mond über dem Strohdach auf. Erwartungsvolle
Stille legte sich über das Theater hinter uns.
Ich weiß nicht, worauf
ich wartete. Vielleicht auf eine weitere Trompetenfanfare. Doch was
geschah, war viel simpler. Die Tür öffnete sich, und eine Frau
mit langem schwarzen Haar, das im Mondlicht glänzte, trat heraus. Sie
hatte uns den Rücken zugewandt, als sie den Schlüssel im Schloss
umdrehte, doch ich wusste auch so, dass ihre Haut so rotbraun wie die Erde
von Utah war.
»Ya’at’eeh«,
rief ich leise. Das einzige Wort Navaho, an das ich mich erinnerte:
›Hallo‹.
Sie zuckte zusammen und
drehte sich um. Maxine Tom, halb Navaho-, halb Paiute-Indianerin, war eine
strahlende Schönheit mit breiten Wangenknochen und einem lachenden
Mund. Wie sie dort vor der Tür stand, in einem weiten Rock, einem
engen Sweatshirt mit Reißverschluss und hippen Turnschuhen, hätte
sie genauso gut vor dem neuesten Club in Manhattan stehen können.
Aber sie fühlte sich nirgendwo so zu Hause wie hier, in dieser
surrealen Mischung von Shakespeare-Nostalgie und Prärie.
Andererseits schien Maxine
stets ein Knäuel surrealer Mischungen im Gepäck zu haben, egal
wo sie hinging. Ich lernte sie in Harvard kennen, als sie dabei war, ihre
Promotion zu beenden, während ich gerade erst damit anfing. Ich hielt
sie für einen der brillantesten Menschen der Welt, und ich war mit
meiner Meinung nicht allein. Nach der Promotion wurde sie mit Angeboten
überhäuft, was fast obszön war, wenn man bedachte, wie rar
die Stellen in der Shakespeare-Forschung gesät waren. Sie hatte sich
die Stelle ausgesucht, die ihr wie auf den Leib geschneidert war:
Junior-Professorin für englische Literatur und Leiterin einer kleinen
Archivbibliothek zwischen den roten Felsen und Wacholderhainen der
Hochebene von Utah im Westen der USA.
Ros war nicht froh darüber
gewesen. Ich saß direkt vor ihrem Büro, als Maxine ihr die
Neuigkeit überbrachte. Eine kalte Stille entstand, und dann sagte
Ros: »Du hättest nach Yale oder Stanford gehen können.
Warum willst du dein Talent im Süden von Utah verschwenden?«
Der Süden von Utah sei
der Ort, an den sie gehöre, erklärte Maxine. Nur hier konnte sie
nahe beim Volk ihres Vaters im Paiute-Reservat südlich der Stadt und
dem ihrer Mutter drüben in Dinetah sein - dem Land der Navaho - und
Weitere Kostenlose Bücher