Die Shakespeare-Morde
Sie
lachte - ein temperamentvolles Lachen, das nichts von einer verhuschten
Bibliothekarin hatte. Doch obwohl die beiden so einvernehmlich wirkten,
entging mir nicht, dass Ben die Tür, die Fenster und sogar Maxine im
Auge behielt.
Ich nahm die Granville-Karte
aus dem Katalog und schob einen rosa Stellvertreterzettel hinein.
Hamlet. Wahrscheinlich hatte er damit Ros’ Aufmerksamkeit erregt.
Aber in welche Richtung war sie von hier gegangen? Ich sah mir die
Informationen auf der Karte an.
Arbeitete in New Mexico
und Arizona, 1870-1881. Claims in Arizona:
Cordelia, Ophelia, Prinz
von Marokko, Timon von Athen; Claims in New Mexico: Kleopatra, Cupido.
Granville kannte seinen
Shakespeare: Cordelia, Ophelia und Kleopatra waren weit verbreitete
Shakespeare-Namen, beliebt bei den Goldgräbern im ganzen Westen. Ich
wunderte mich nur, wie er auf Timon gekommen war. Als Shakespeare das Stück
über den alten Misanthropen schrieb, schien ihm irgendeine Laus
über die Leber gelaufen zu sein: Es war kein Stück, das man
freiwillig las. Cupido kam mir vage bekannt vor, doch ich hätte erst
nachsehen müssen, um sicher zu sein. Aber es war der Prinz von
Marokko, der mich am meisten irritierte - nicht weil er willkürlich
war, sondern im Gegenteil, weil er so gut passte.
Im ›Kaufmann von
Venedig‹ soll der Prinz von Marokko aus drei Truhen - aus Gold,
Silber und Blei - diejenige wählen, die Portias Porträt enthält.
Findet er die Richtige, gewinnt er ihre Hand. Doch als er sich für
die goldene Truhe entscheidet, findet er nur einen Spottvers darin:
»Alles ist nicht Gold, was gleißt.« Es war die gleiche
Zeile, mit der Granville in seinem Brief an Professor Child gespielt
hatte. Arizona und New Mexico waren zwar keine Goldregionen, doch in einem
Punkt hatte ich recht gehabt. Für Mr Granville war der Gedanke an
Gold mehr als nur eine Laune.
Auf der Katalogkarte standen
außerdem Verweise auf mehrere Zeitungsartikel im ›Tombstone
Epitaph‹ Der letzte lautete: Nachruf: Tombstone Epitaph, 20. August
1881.
Der Brief an Professor Child
musste also vor diesem Datum geschrieben worden sein.
»Findest du, was du
suchst?«
Ich erschrak. Maxine und Ben
standen direkt hinter mir. So viel dazu, dass ich auf der Hut sein sollte.
»Klar.« Ich trug
die Daten der Artikel im ›Epitaph‹ in einen Bestellzettel
ein. Maxine verschwand damit im Hinterzimmer und kam mit zwei Mikrofilmboxen zurück,
»Jan.-Juni 1881« und »Juli-Dez. 1881«. Dann setzte
sie sich an ihren Computer. Ich schob Ben die zweite Kiste hin. »Haben
Sie schon mal Mikrofilm gelesen?«
»Kein Bedarf in meinem
Geschäft.«
»Jetzt schon.« Es
gab zwei Lesegeräte. Ich zeigte ihm, wie er die Rolle einführen
musste, dann schaltete ich das Licht ein. »Der Nachruf auf Granville
muss irgendwo in der Zeitung vom 20. August 1881 stehen.«
In der Zwischenzeit suchte
ich nach den Artikeln über seinen Auftritt als Hamlet. Beim
Vorscrollen flogen die Seiten bis Mai vorbei, dann wurde ich langsamer.
Hier war es:
EINE GUTE WETTE. - Wie wir
am Morgen erfahren haben, wird einer unserer Mitbürger, ein in
sportlichen Kreisen bekannter Gentleman, im Bird-Cage-Theater am kommenden
Samstagabend erstmals den Hamlet geben. Der Gentleman spielt die Rolle
aufgrund einer schwerwiegenden Wette, bei der einhundert Dollar auf dem
Spiel stehen, nämlich daß er nicht in der Lage sei, den Text
(den längsten im ganzen Stück) innerhalb von drei Tagen
auswendig zu lernen. Besagtes Lernen der Rolle soll heute Nachmittag in
einem gewissen Salon von bestem Ruf beginnen.
Freuen Sie sich auf ein
aufregendes Ereignis.
Granvilles Name tauchte in
dem Artikel zwar nicht auf, doch er wurde als Spieler bezeichnet, und zwar
auf hohem Niveau. Einhundert Dollar mussten im Jahr 1881 ein Haufen Geld
gewesen sein: Tausende, vielleicht Zehntausende Dollar nach heutigem Wert.
Doch was mich weit mehr beeindruckte als die Höhe der Wette, war die
Dreitagesfrist. Hamlet war die längste und anstrengendste aller
Shakespeare-Rollen. Die meisten erfahrenen Schauspieler, die ich kannte,
konnten sie nicht in drei Tagen lernen. Eine solche Aufgabe schaffte nur
jemand, der mit Shakespeare so vertraut war, dass ihm Tonfall und Rhythmus
der Sprache ganz natürlich erschienen. Jemand, der selbst gut im
Geschichtenerzählen war und darüber hinaus
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