Die Shakespeare-Morde
gleichzeitig ihre Tage mit Shakespeare und den Studenten verbringen, von
denen einige selbst Indianer waren. Dann war die Tür zugegangen, und
ich hörte nichts mehr. Es war eine unheilvolle Stille gewesen - die
Stille der Vögel vor dem Erdbeben. Als Maxine ging, hatte sie mir
einen Rat fürs Leben zugeworfen, doch ihr Lächeln war traurig
gewesen: Lass dir niemals Dinge ausreden, an denen deine Seele hängt.
Jetzt sah sie mich an, und
ihre Augen weiteten sich. »Kate Stanley«, sagte sie leise.
Im gleichen Moment erhob sich
ein Geschrei im Theater, und das Klirren von Schwertern ertönte.
Maxine drehte den Kopf. »Komm rein«, sagte sie dann. Sie
schloss die Tür wieder auf, die sie eben abgeschlossen hatte. »Ich
habe dich erwartet«, sagte sie, bevor sie in der Dunkelheit
verschwand.
An der Schwelle zögerte
ich. Sie hatte mich erwartet?'Wer hatte ihr gesagt, dass ich kommen würde?
Als ich mich nach Ben
umdrehte, sah ich, wie er die Waffe im Halfter zurechtrückte.
Ich holte tief Luft. Dann
folgte ich Maxine ins Haus.
20
ln der Tür blieb ich
stehen. Ich spürte Bens Anspannung. »Woher wusstest du, dass
ich komme?«
»Von Ros«,
antwortete Maxine aus dem Dunkel. »Was dachtest du denn?« Sie
drückte einen Schalter, und warmes goldenes Licht durchflutete den
Raum. »Wenn du das Archiv benutzen willst, musst du schon ganz
hereinkommen.«
Ich ging ein paar Schritte
hinein. Ben bewegte sich nicht.
Maxine öffnete die
kleinen Rautenscheibenfenster. Von draußen trug die Abendluft den
Duft von Rosen herein. »Was ist los, Kate?«
»Ich muss etwas
recherchieren.«
Vor einem der Fenster drehte
sie sich um und beobachtete mich mit verhangenem Blick auf Navaho-Art.
»Ros geht dich im Globe besuchen und stirbt, während das
Theater mitsamt der First Folio abbrennt - am 29. Juni. Dienstag, den 29.
Juni.« Sie setzte sich auf die Fensterbank und schlug die Beine
übereinander. »Zwei Tage später tauchst du hier auf, genau
wie sie angekündigt hat. In der Zwischenzeit ist auch die
Harvard-Folio in Flammen aufgegangen.« Sie sah mir in die Augen.
»Die ganze Shakespeare-Welt redet von nichts anderem, Kate. Ich habe
ungefähr hundert E-Mails in der Mailbox. Und du bist in Utah,
›um etwas zu recherchieren‹?«
Ich blinzelte. »Es wäre
besser, wenn du mir keine Fragen stellst, die ich dir nicht beantworten
kann.«
»Eine Frage muss ich
dir stellen.« Sie drückte sich von der Fensterbank ab. »Arbeitest
du für Ros oder gegen sie?«
Ich dachte an die Brosche in
meinem Ausschnitt. »Für Ros.«
Sie nickte. »Also gut.
Du weißt, wie es hier läuft. Sag mir Bescheid, wenn du Hilfe
brauchst.«
Ich sah mich um. Der Raum war
viel gemütlicher, als ich ihn in Erinnerung hatte. Die großen
Tische, die auf dem grauen Steinboden standen, waren noch dieselben, aber
es waren tiefe Chintzsessel dazugekommen und Silberschalen mit Blumen. Die
Eichenschränke mit dem Zettelkatalog standen nach wie vor an den Wänden.
Maxine zeigte mit einem
Nicken zum Bibliothekarstisch, über dem eine nagelneue
Messingplakette hing. Athenaide D. Preston, Shakespeare in the West
Archive, Southern Utah University. »Wir haben eine neue Mäzenin«,
erklärte sie. Ich hatte von Athenaide Preston gehört. Eine
exzentrische Sammlerin, keine Literaturwissenschaftlerin. Es hieß,
sie sei reicher als König Midas.
Ich ging an den Katalog. Ein
Teil der Schränke war nach Personen geordnet, ein anderer nach
geografischen Orten, und dann gab es noch einen Schrank für
spezifische Aufführungen und einen für Vermischtes. Ich nahm mir
die Personen vor, Schublade Gl-Gy. Goodnight, Charles. Rancher (las seinen
Cowboys Shakespeare vor) Grant, Ulysses S.
General und Präsident der Vereinigten Staaten (spielte als Lieutenant
in Texas die Desdemona)
Mit trockenem Mund blätterte
ich zur nächsten Karte.
Granville, Jeremy. Goldsucher
und Spieler (spielte im Mai 1881 am Bird-Cage-Theater in Tombstone,
Arizona, den Hamlet) Hamlet. Er hatte den
Hamlet gespielt. Plötzlich war mir Granville so nah, dass ich das Gefühl
hatte, wenn ich mich schnell umdrehte, würde er vor mir stehen -
flimmernd und verschwommen wie eine Fata Morgana.
Doch als ich mich umblickte,
war da nichts als die offenen Fenster, durch die ich das Theater sah.
Ben stand mit Maxine an einem
Bibliothekstisch und sprach gedämpft flüsternd auf sie ein.
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