Die Shakespeare-Morde
ließ - hatte
vorgehabt, Granville persönlich aufzusuchen. Von Massachusetts nach
Arizona. Keine Reise, die man im Jahr 1881 auf die leichte Schulter nahm.
Ich las bis zu Ende, doch sie
schrieb nur noch ein paar bedeutungslose Nichtigkeiten. Der Brief endete
mit einem Shakespeare-Zitat, das sie unterstrichen hatte:
Liebe fnd’t zuletzt
ihr Stündlein.
Das weiß jeder
Mutter Kind.
Deine Briefe hüte ich
wie meine teuersten Juwelen,
Ophelia Fayrer Granville
Ophelia, dachte ich
schaudernd.
»Die Ophelias vermehren
sich wie die Fliegen«, stellte Ben fest. »Nicht diese«,
sagte Athenaide. »Die arme Frau. Ihr Geliebter kam nie zurück.«
»Ihr Ehemann«,
sagte Ben. »Sie unterschreibt mit Granville.«
»Und was noch wichtiger
ist«, erklärte ich, »sie bewahrte seine Briefe auf. Die
Spur zu Jeremy Granville führt über Ophelia.«
»Wir müssen
Ophelia finden«, sagte Athenaide.
»Und die Briefe«,
antwortete ich.
»Meinen Sie, die
existieren noch?«, fragte Ben.
»Ich glaube, Ros war
davon überzeugt.«
Er berührte den
Briefumschlag. »Nicht nur die Briefmarke ist britisch«,
stellte er fest. »Auch die Schreibweise. Und der Tonfall. Sie klingt
durch und durch britisch.«
»Sie schrieb aus dem
Savoy«, überlegte ich. »Das heißt, sie war keine
Londonerin. Sie hatte Geld, aber sie kannte nicht viele Leute in London,
sonst hätte sie nicht im Hotel gewohnt.« Ich schüttelte
den Kopf. Das war nicht viel.
»Auf der Rückseite
ist noch ein Postskriptum«, sagte Athenaide.
Ich drehte den Brief um.
Ophelia hatte hastig zwei Zeilen auf die Rückseite geschrieben,
anscheinend nachdem sie das Blatt für die Post gefaltet hatte.
Eben erhielt ich die
Erlaubnis der Familie Bacon aus Connecticut, auf dem Weg zu Dir Miß
Bacons Papiere durchsehen zu dürfen!! Schreib mir genau, wonach ich suchen
soll.
Lächelnd blickte
Athenaide zu dem Millais über dem Kamin. »Ich schätze, Sie
verstehen den Verweis auf Miss Bacon.«
Ben sah uns verständnislos
an. »Wer ist Miss Bacon?«
»Delia Bacon.«
Ich stützte den Kopf in beide Hände. »Eine
Literaturwissenschaftlerin aus dem 19. Jahrhundert, die von ihrer
Shakespeare-Besessenheit in den Wahnsinn getrieben wurde.«
»Inwiefern war sie
besessen?«, fragte Ben.
Athenaide riss den Blick von
dem Bild und sah mich an. »Sie war besessen von der Idee, dass
William Shakespeare aus Stratford die Stücke, die seinen Namen
tragen, nicht geschrieben hat.«
Eine lange Pause entstand.
»Das ist doch lächerlich«,
erklärte Ben. Doch als keine von uns etwas sagte, fragte er: »Oder?«
»Nicht lächerlich«,
sagte ich leise. »Delia Bacon war brillant. In einer Zeit, als
gebildete Frauen einer gewissen Klasse als Erzieherinnen in Kinderstuben
verbannt wurden, machte sich Delia Bacon als Gelehrte einen Namen. Sie
verdiente mit einer Vorlesungsreihe in New York und New England ihr
eigenes Geld, indem sie vor ausverkauften Sälen über Literatur
und Geschichte referierte. Doch ihre Leidenschaft galt Shakespeare, und am
Ende gab sie ihre hart erkämpfte Karriere auf, um seine Stücke
zu studieren.«
Wenn ich Delias Geschichte
erzählte, konnte ich nicht still sitzen bleiben. Ich stand auf und
ging im Saal auf und ab, wobei ich die Finger über die Wandbehänge
gleiten ließ, die sich unter der Berührung bauschten. »Delia
war überzeugt, dass sie eine tiefere Philosophie entdeckt hatte, die
sich durch Shakespeares gesamte Dramen zog. Und schließlich kam sie
zu der Überzeugung, dass der Mann aus Stratford unmöglich solch
sublime Werke verfasst haben konnte. Also schiffte sie sich nach England
ein und verbrachte zehn Jahre isoliert in verschiedenen engen, kalten Kämmerchen,
wo sie das Buch schrieb, das ihre Theorie beweisen sollte.«
Durch die Bogenfenster auf
der Galerie ergoss sich der wildwestliche Morgen und flutete den
Marmorboden mit hellem Sonnenlicht. »Als ihr Werk endlich vollendet
war, erwartete sie Applaus, doch stattdessen bekam sie erst Schweigen,
dann Spott. Unter dem Druck brach sie zusammen. Man brachte sie in die nächste
Anstalt, und zwei Jahre später starb sie im Irrenhaus, ohne je wieder
einen Satz ihrer geliebten Dramen gelesen oder gehört zu haben. Ihr
Bruder sorgte dafür, dass in ihrer Gegenwart nicht einmal der Name
des Barden ausgesprochen werden durfte.«
»Also nicht
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