Die sieben Häupter
Euch bitten, ein wenig schneller zu reiten, edler Herr«, holte Lurias Roswitha aus ihren Gedanken. »Es ist Freitag, und über den Wipfeln der Bäume wird es bereits dämmrig!«
Roswitha warf dem alten Mann einen gereizten Blick zu. Er hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber sie ahnte, daß Lurias’ plötzliche Eile mit seinen verschrobenen Gewohnheiten zu tun hatte. Dabei war er es gewesen, der den ganzen Tag über getrödelt und sie mit seinen Schrullen mehr als einmal aufgehalten hatte. Noch bevor sie von Nienburg aufgebrochen waren, hatte der Händler sich Lederschnüre um den Arm und eine schwarze Kapsel vor die Stirn gebunden. Danach war er mit einem langen Leintuch im Wald verschwunden, um weinerliche Gesänge in einer fremden Sprache anzustimmen.
Roswitha seufzte tief, als sie ihr Pferd zu dem heruntergekommenen Verschlag aus notdürftig zusammengenagelten Brettern führte, welcher als Stallung für die Reisenden herhalten mußte. Die Hälfte des Strohdaches war bereits eingebrochen; zwei Schweine äugten neugierig zwischen den Verstrebungen eines Zaunes hervor. Ein Knecht, der ihr den Rappen abnehmen, tränken und füttern konnte, war weit und breit nicht auszumachen, also band sie die Zügel eigenhändig um einen Balken und raffte rasch ein Bündel Heu zusammen. Da sie nirgendwo einen Brunnen entdeckte, würde sie den Herbergswirt später um Wasser bitten müssen.
»Alles in Ordnung, Herr Konrad?« hörte sie die heisere Stimme des Händlers rufen und nickte, ohne sich dabei umzudrehen. Wovor zum Teufel hatte Lurias jetzt noch Angst? Und überhaupt: Hätte er ihr nicht ein wenig helfen können? Zum wiederholten Mal nahm sie sich vor, den verrückten Sonderling bei der nächsten Gelegenheit zu verlassen und alleine nach Aken zu reiten, um Bernhard Bericht zu erstatten. Gleichzeitig war sie sich bewußt, daß sie es nicht übers Herz bringen würde, sich ohne jede Erklärung aus dem Staub zu machen. Sie hatte in den vergangenen Wochen so viele Fehler begangen, so viele Menschen ausgenutzt und verletzt. Vor allem Ludger, an den zu denken ihr zu dieser Stunde am meisten Kummer bereitete.
Bernhard würde sich vor Lachen ausschütten, wenn er mich so sähe, dachte sie müde. Er hatte ihr beigebracht, daß die höchste Qualität einer Dirne darin lag, zum eigenen Vorteil Herzen zu stehlen. Ihr Ziel sollte es sein, Macht über unwissende Männer zu erlangen. Bernhard von Aken war indes kein Unwissender; sein Verstand funktionierte stets tadellos. Selbst wenn er sie auf einem kalten, öden Waldboden nahm, trieb ihn weniger Gier als vielmehr Berechnung an. Ob er sie jemals zur Frau nehmen würde? Seine wiederholten Andeutungen warenweder Fisch noch Fleisch. Im Gegenteil: Roswitha fand, daß seine Pläne in Anbetracht ihrer Erlebnisse mit Ludger und seinen Widersachern einen zunehmend schalen Beigeschmack annahmen.
Sie biß die Zähne zusammen und beeilte sich, zu dem ungeduldig wartenden Kräuterhändler zurückzukehren. Der Alte nestelte nervös an seinem ledernen Geldtäschchen herum, das er an einem Gürtelband um die Hüfte trug, und zog ein Gesicht, als entlüden sich Gewitterwolken über seinem Haupt.
Roswitha räusperte sich betreten. Möglicherweise rechnete Gott es ihr als frommes Werk an, wenn sie sich wenigstens dem ängstlichen Krämer gegenüber großmütig zeigte. Es kostete sie nichts; Aken würde sie in dieser Nacht ohnehin nicht mehr erreichen, und wenn Lurias auch nur ein Angehöriger jenes merkwürdigen Volkes war, vor dem zu warnen die Kirche nicht müde wurde, so spürte sie doch einen Hauch von Verantwortung für ihn und sein Schicksal. Soweit Roswitha sich der Worte ihres ehemaligen Hauskaplans erinnerte, mußten die Juden im Reich seit den Beschlüssen des acht Jahre zurückliegenden Laterankonzils gelbe Hüte mit einem spitz zulaufenden Horn sowie einen Ring am Mantel tragen, um sich von ihren christlichen Nachbarn zu unterscheiden. Lurias besaß einen Hut der vorgeschriebenen Art; Roswitha hatte ihn gesehen, als sie gegen Mittag im Karren des Händlers nach einer Korbflasche und ein paar Tonbechern gesucht hatte. Doch der Alte ließ das verräterische Zeichen seiner Abkunft zumeist unbeachtet in einer Kiste liegen. Seinen Kopf bedeckte er lediglich mit einer winzigen Kappe aus schwarzem Samt.
»Also schön«, rief Roswitha nach einer kurzen Weile und bedachte den dünnen Rauchfaden, der aus dem Kamin des Schankraums in den wolkenverhangenen Himmel glitt, mit einem abschätzigen
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