Die siebte Gemeinde (German Edition)
mehr und mehr durchschaubarer. Seitdem die Gemeinschaft in ihr Leben eingegriffen hatte, verabschiedete sie sich völlig aus der Gesellschaft. Sie ging nicht mehr zur Arbeit, telefonierte nicht mehr und redete mit niemandem. Hin und wieder sah Alex sie am Computer sitzen, aber auch das war ungefährlich, weil sie sich in ihren Anschluss gehackt hatten. Sie stand also unter der kompletten Kontrolle der Gemeinschaft, und Victoria wusste das. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sie endgültig zusammenbrechen würde. Selbst ihm war aufgefallen, dass sie eine Unmenge an Gewicht verloren hatte und das, obwohl er sie jeden Tag beobachtet hatte. Lange würde sie nicht mehr durchhalten können.
Alex schlenderte gelangweilt über den Friedhof und kickte einen Kieselstein vor sich her. Er kannte die Inschriften auf den Familiengräbern in der Nähe von Patricks Grab mittlerweile auswendig und versuchte, sich die Zeit zu vertreiben, bis Victoria ihr Ritual absolviert hatte und nach einer Viertelstunde zurück zum Auto trottete. Plötzlich sah er, wie Emma und Elias über den Hauptweg hinweg auf sie zugingen.
»Was zum Henker ...?«
Alex schaute sich irritiert auf dem Friedhof um. War Maria in der Nähe? Er konnte ihn auf jeden Fall nicht sehen. Er zupfte sich nervös am Mantel. Sollte dies tatsächlich nur ein Zufallstreffen sein? Alex glaubte nicht an Zufälle. Victoria hatte zwar vor kurzem einen Anruf erhalten, aber sofort aufgelegt. Gesprochen hatte sie heute noch gar nicht. In diesem Augenblick ärgerte er sich, nicht ein zusätzliches Mikrofon am Grab befestigt zu haben. Hektisch suchte er nach seinem Telefon. Die Drei durften keine Gelegenheit haben, lange miteinander zu reden. Sein Meister würde ihm sagen, was er zu tun hätte.
Elias setzte sich neben Emma auf einen Stuhl und hörte ihr gespannt zu, wie sie ihm Victorias Brief vorlas: » Liebe Emma, lieber Elias! Entschuldigen Sie bitte die Geheimnistuerei, aber es geht im wahrsten Sinne um Leben und Tod. Vorab der wichtigste Hinweis: Sie müssen absolut vorsichtig sein! Ich werde von einer Gruppe verfolgt und belauscht, die sich die ›Gemeinschaft des himmlischen Jerusalems‹ nennt. Diese Gemeinschaft hat Patrick umgebracht, und sie haben meinen Sohn Nathan in ihrer Gewalt … «
»Oh, mein Gott!« Emma schlug sich gegen die Stirn. »Deshalb war der Junge nicht auf der Beerdigung.«
Elias drehte unruhig mit der Hand durch die Luft. »Wie geht’s weiter?«
» Bevor Sie sich jetzt fragen, warum ich bisher nicht die Polizei eingeschaltet habe, dazu komme ich später. Vorab zu Ihrem Verständnis: Einige Dinge, die Sie jetzt lesen, werden Sie mit Sicherheit als Idiotie und Hirngespinste abtun. Leider sind aber diese Menschen, mit denen wir es zu tun haben, sowie ihre Taten knallharte Realität. Alles das, was ich Ihnen zu Beginn schildern werde, dient einzig meiner zum Schluss gestellten Bitte.
Die Gemeinschaft des himmlischen Jerusalems, gegründet bereits im ersten Jahrhundert nach Christus, ist eine Gruppe dem Zerstörungswahn verfallener christlicher Fundamentalisten. Ihr Ziel ist es, die Heilige Stadt, so wie es gemäß der Prophezeiung des Johannes in der Apokalypse geschrieben steht, entstehen zu lassen. Laut dieser Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel, geschieht dies, kurz zusammengefasst, wenn Gott auf die Erde zurückkehrt und alle Sünden der Menschheit bereut werden.
Die Gemeinschaft ist der Auffassung, dies würde ihnen gelingen, wenn sie die sieben Briefe, die von Johannes im Auftrag Gottes an die sieben Gemeinden versendet wurden, sowie das Leichentuch von Jesus Christus miteinander vereinen.
Auf dem Tuch befinden sich Blutreste von Jesus Christus, und sie gehen davon aus, dass dieses Blut die Wiederkehr Christi in der Johannes-Prophezeiung symbolisiert. Die Anhänger haben sogar eine Begründung für ihre Theorie: Bisher brach, jedes Mal, wenn in der Geschichte der Menschheit das Tuch und die Briefe beinahe zusammentrafen, exakt an dieser Stelle Tot und Zerstörung über diese Region herein.
Edessa beispielsweise, wo das Tuch viele Jahre von einem Hüter aufbewahrt wurde, hatte man vor dem Raub des Tuches im Jahre 944 fast vollständig zerstört. Jerusalem, lange Zeit Aufbewahrungsort der Briefe, stand mehrere Male immer wieder kurz vor einer endgültigen Zerstörung, und selbst Konstantinopel wurde in der Folge des vierten Kreuzzuges nahezu vollständig dem Erdboden gleichgemacht. Alleine in Konstantinopel dezimierte
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