Die siebte Maske
Phil nahm an, daß es sich um Sawyers massive Faust handelte. Er sah alles nur noch schmerzverzerrt und wie im Nebel, sah, daß der Kerl wieder auf ihn losging. Sawyers Gesicht war vor Wut verzerrt. Aber am schlimmsten waren seine Augen. Sie waren völlig ruhig, unbeteiligt – die Augen eines Geschäftsmannes.
Nancys Dinnerparty war gleichzeitig ein Erfolg und ein Mißerfolg. Der gedeckte Tisch entsprach genau dem erlesenen Vorbild aus der Zeitschrift ›McCall‹. Das Servieren der einzelnen Gänge klappte wie am Schnürchen. Nicht ein Bissen konnte beanstandet werden. Mike erkannte die Qualitäten des Mahles sofort und geizte nicht mit Lob. Desgleichen Adrienne Haven und ihr Vater, die beiden Gäste. Und doch, die wesentlichsten Bestandteile fehlten. Die prickelnde Atmosphäre. Ein Lächeln im rechten Moment. Eine Anekdote, fröhliches Gelächter; oder eine ernste Anmerkung und ein verständnisvolles Nicken. Die Gespräche waren gespreizt, die Witze gezwungen, und insgeheim schien sich jeder zu denken: Bringen wir es möglichst schnell hinter uns.
Mr. Kyle machte immerhin einen Versuch.
»Eines hätte ich gern gewußt, Mr. Karr«, sagte er mit gar zu sonorer Stimme. »Werden Rechtsanwälte auch mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt wie Ärzte?«
»Nicht sehr oft«, antwortete Mike mit gequältem Lächeln. »Aber es kann schon vorkommen, daß ein Klient mich zu unmöglicher Stunde anruft.«
»Wissen Sie, daß mein Vater früher Arzt war?« wandte sich Adrienne an Nancy.
»Ja, Mike hat es erwähnt«, sagte Nancy. »Aber ich habe immer gedacht, Arzt bleibt man bis an sein Lebensende.«
Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, stieg Röte in ihre Wangen. Ein betretenes Schweigen folgte, das Kyle mit einem Lachen beendete.
»Nein, nein, auch wir dürfen den Beruf an den Nagel hängen«, erklärte er. »Wie alte Geldscheine werden wir ganz langsam aus dem Verkehr gezogen.«
»Rechtsanwälte desgleichen«, bemerkte Mike grinsend. »Nur mit dem Unterschied, daß Ärzte, glaube ich, den Titel ›Doktor‹ nie mehr loswerden.«
»Daddy ist es gelungen«, sagte Adrienne. »Seit er nicht mehr praktiziert, hat er sich ganz einfach niemandem mehr als ›Doktor‹ Kyle vorgestellt.«
»Da waren Sie aber bescheidener als nötig«, sagte Nancy und schenkte ihm einen besonders anerkennenden Blick.
»Es war reine Notwehr«, meinte Adriennes Vater. »Ich hatte einfach keine Lust mehr, immerzu kostenlos Ratschläge zu erteilen. Manchmal habe ich mich auch als Tierarzt ausgegeben, wenn jemand herausgekriegt hatte, daß ich den Doktortitel habe.«
»Und hat das etwas genützt?« fragte Nancy lächelnd.
»Nicht immer. Gelegentlich hat man mich gebeten, den Hund zu behandeln.«
Das war der beschwingteste Augenblick des Abends, und alle lachten – außer Adrienne.
»Möchten Sie noch Kaffee?« fragte Nancy sie.
»Nein, danke.« Auf ihrer Stirn ahnte man einen Anflug von Schweiß.
Mike sagte: »Ist es nicht zu warm hier drin?«
Darauf erklärte Nancy: »Im Gegenteil, mir kommt es eher kalt vor. Der Thermostat in diesem Zimmer ist der reinste Simulator für arktisches Klima.«
Kyle schaute seine Tochter an. »Alles in Ordnung, meine Liebe?«
»Nur ein bißchen warm, Daddy.« Sie bemühte sich, Nancy anzulächeln. »Manchmal glaube ich, der Thermostat in mir ist auf Kongo eingestellt.«
»Na ja, Sie sind eben eine Ausnahme«, sagte Mike und grinste Nancy zu. »Meiner Erfahrung nach frieren Frauen im allgemeinen viel eher als Männer – deswegen haben sie auch eine zusätzliche Heizstufe in elektrisch beheizten Bettdecken.« Aber sein Lächeln erstarb, als er sah, wie sich Adrienne Haven mit der Serviette die feuchte Stirn betupfte. Auch schien sie ihre leicht rollenden Augen nicht ganz in der Gewalt zu haben.
»Adrienne«, sagte ihr Vater mit einem nervösen Beben in der Stimme, »vielleicht ein bißchen frische Luft –«
»Ja, das wäre nicht schlecht«, sagte seine Tochter ruhig. Sie legte behutsam die Serviette weg und stand auf. Dann gaben ihre Knie nach, und sie kippte nach vorn. Nur Mikes blitzschnelle Reaktion verhinderte, daß sie auf Nancys prächtig gedeckten Tisch fiel.
Sie trugen sie zum Sofa. Mike stützte mit der Hand ihren Kopf, der widerstandslos am Hals hin und her zu pendeln schien. Sowie sie auf dem Sofa lag, wurde ihr Vater gleich wieder zu ›Dr. Kyle‹. Er öffnete den Kragen ihres Kleides und betupfte Stirn und Hals mit einer feuchten Serviette, die Nancy ihm reichte. Als seine Tochter
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