Die Siechenmagd
Morgens werden die Leichname von den schwarzkuttigen Gugelmännern eingesammelt, die feine Silberglöckchen an ihren Kutten und Fackeln in den Händen tragen, um dadurch die Luft vom Pesthauch zu reinigen. Bald reichen die Kräfte der städtisch bestellten Leichenträger nicht mehr aus, und sie erfahren Unterstützung von kirchlicher Seite, den ganz in rot gekleideten „Brüdern des Mitleids“.
Die Menschen in Frankfurt glauben, das Ende der Welt sei gekommen, und erwarten in apathischer Trauer um ihre Angehörigen selbst nur noch den Tod. Umgeben von endlosem Leiden und Sterben, stumpfen die meisten immer mehr ab. Die permanente Angst vor der Ansteckung vernichtet zunehmend jedes Mitgefühl: Eltern verlassen ihre erkrankten Kinder, Ehegatten lassen ihre sterbenden Männer und Frauen in kaltherziger Panik im Stich, als ob sie Fremde wären. Bei anderen bewirkt die Endzeitstimmung eine überdrehte, groteske Sinnenfreude. Viele besitzlose Überlebende haben sich in Horden zusammengeschlossen und ziehen lärmend durch die Stadt, fallen in die leer stehenden Patrizierhäuser ein, feiern dort wilde Orgien, bei denen bis zum Umfallen gebuhlt, getanzt und gezecht wird. In ihrer krankhaften Lebensgier erhoffen sich die Verzweifelten, die Pest mit ihrer Fröhlichkeit bannen zu können. Doch vergebens, denn der schwarze Tod ereilt auch diejenigen, die sich mit panischer Verbissenheit an die Genüsse des Lebens klammern. Gesetzlosigkeit und Barbarei begleiten die Seuche. Leer stehende Häuser werden ausgeraubt, die Räuber kleiden sich in die edlen Gewänder, behängen sich mit dem Schmuck der verstorbenen Hausherren und geben sich einem nie gekannten Schwelgen im Luxus hin, fest entschlossen, solange zu genießen, bis der schwarze Mann auch sie holt. Die in hektischer Vergnügungssucht Gefangenen haben nichts mehr zu verlieren und die allgemeine Bereitschaft zur bösen Tat steigert sich gewaltig. Die Menschen werden in ihrem Umgang miteinander immer rücksichtsloser und grausamer.
Martha Backes ist ratlos. Seit Wochen hat sie nun schon alle Hebel in Bewegung gesetzt, um für ihre Nichte eine Strafmilderung zu erwirken. Mit verschiedenen Ratsherren, sogar mit dem Schultheiß hat sie gesprochen, doch alles hat nichts genützt, die feinen Herren haben sich stur gestellt. Dann hat sie versucht, den Henker zu bearbeiten, ist mit ihm sämtliche Möglichkeiten durchgegangen, wie man Mäu zur Flucht verhelfen könne, und immer hat er nur ausweichend reagiert. Das sei alles nicht so einfach, wie sie sich denken würde, hat er von sich gegeben. Er werde aber schauen, was sich machen ließe. Und nichts ist bis jetzt passiert. Der Edu und die Anna wollen ja auch, dass ihre Tochter frei kommt. Aber kalbsköpfig wie sie nun mal halt sind, fällt ihnen dazu überhaupt nichts Schlaues ein. Als wäre es nicht so schon schlimm genug, muss jetzt auch noch die Pest ausbrechen! Da haben doch alle ganz andere Sorgen, und sie selber ja auch, geht es ihr durch den Sinn, während sie nach unten geht und die Küchenmagd beauftragt, ihr heißes Wasser vorzubereiten. Zwei ihrer Kolleginnen aus dem Frauenhaus sind inzwischen ebenfalls an der Pest gestorben. In Trauer um die beiden Hübscherinnen fragt sie sich, wann es auch sie selbst erwischt. Bei jedem Freier ist sie voller Argwohn, ob dieser nicht schon die Krankheit in sich trägt und an sie weitergeben wird. Aber das Leben muss schließlich weitergehen, und sie wird sich jetzt endlich herrichten für eine dieser seltsamen, morbiden Feierlichkeiten, die in letzter Zeit so häufig abgehalten werden und zu denen die wohlhabenden Veranstalter stets auch die schönsten Hübscherinnen der Stadt einzuladen pflegen. Sie betritt das Zimmer, das den freien Frauen als gemeinsame Wohnstube dient. Die anderen drei Huren sind bereits über einen Tisch gebeugt, auf dem sich Ohrgehänge, Halsbänder und Stirnreifen häufen. Verzückt begutachten sie den Schmuck, der ihnen vorhin von der Goldschmiedeinnung angeliefert worden ist. Er wird ihnen von der Stadt für offizielle Festivitäten im Rahmen des Senats zur Verfügung gestellt, denn die offenbaren Frauen sollen für einen solchen Anlass prächtig gekleidet und geschmückt sein. Auch ihre Haartracht muss kunstvoll frisiert werden, sind sie doch während der Festlichkeiten stets auch ein Aushängeschild für den Wohlstand der Stadt Frankfurt, – und das selbst noch zu Pestzeiten. Jedes Schmuckstück muss genau quittiert und vermerkt werden, und die
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