Die Signatur des Mörders - Roman
nun hackte er in die Zehen. Bald darauf in den Unterkörper. Schließlich flog er weg, kam erneut zurück, umkreiste ihn wieder und wieder und setzte die Arbeit fort. Sein Schnabel grub sich in sein Fleisch.
Als er damals im Krankenhaus aufgewacht war, hatte er laut aufgeschrien. Er sah jetzt noch die Schwester vor sich, die gerade die Infusionsflasche gewechselt hatte. Er erinnerte sich deutlich an ihre Worte. »Dass Sie sich selbst so quälen. Es ist nur eine Entscheidung«, hatte sie gesagt. »Verstehen Sie. Ein einfaches Nein, und es ist vorbei.«
Er hatte etwas sagen, ihr erklären wollen, dass das Heroin ihm Geborgenheit schenkte, ihm Schutz gewährte. Doch war er augenblicklich in das bekannte Dunkel zurückgefallen, das keinem Schlaf glich, sondern einem Zustand unbeschreiblicher Panik. Verzweifelt hatte er versucht, die Augen offen zu halten, doch stattdessen hatte er nur noch gesehen, wie der Geier den Kopf zurückwarf, um genug Schwung zu holen, bis er schließlich den Schnabel durch Alex’ Mund bis tief hinunter in die Kehle stieß. Er hatte deutlich gefühlt, wie er in seinem eigenen Blut ertrank.
Cold Turkey. Bereits John Lennon hatte davon gesungen, als er versuchte, vom Heroin loszukommen.
I wish I was a baby. I wish I was dead. Cold turkey has got me on the run.
Alex wollte diesen Traum verdrängen, indem er daran dachte, wie oft er Helena von hier aus beobachtet hatte, während sie tanzte. Sie war wie eine Gummipuppe gewesen. Sie konnte sich nach allen Seiten verbiegen. Früher hätte er sie um den kleinen Finger gewickelt. Ins Bett hätte er sie gekriegt. Auf jeden Fall. Auf ihn waren die Mädchen seiner Klasse abgefahren. Er war der Freak aller Freaks gewesen.
Ja, ihm war nicht wohl gewesen, sie um ihr letztes Geld zu bitten. Hatte sie ihn je bemerkt, wenn er hier auf dem Balkon stand, sie beobachtete, ihr auflauerte? Er war ihr Wächter gewesen. Einer musste es tun. Einer musste da sein. Mädchen wie sie lebten gefährlich.
Aber er war nicht da gewesen. An diesem Abend nicht.
Er hatte sich von ihrem Geld ein Bier geholt, wobei er mit dem Kioskbesitzer in Streit geriet, weil er kein Pfand für die Flasche bezahlen wollte.
Stattdessen war jemand anders gekommen. Der Geier aus dem Traum. Er war zu ihr geflogen, um ihren Körper statt seinen zu zerfetzen.
Alex war vielleicht auf Drogen, aber nicht blind. Er hatte ihn bemerkt, der wie Pan Tau ausgesehen hatte. Alex hatte sich zunächst nichts dabei gedacht, als die Gestalt am Kiosk vorüberging.
Warum sie?
Er hatte vergessen, wie es sich anfühlte zu lieben. Bis jetzt. Doch wer liebte, trug Verantwortung, und derjenige, der das getan hatte, musste verurteilt werden - und Buße tun.
Alex legte erschöpft den Kopf gegen das Fenster, starrte auf den dunklen Raum dahinter und weinte, ohne es zu wissen.
13
Gummizelle. Das war der Ausdruck, den Ron gebrauchte, wenn er über das Büro sprach, das er sich mit Henri im vierten Stock des Polizeipräsidiums teilte. Den Vergleich hatte Myriam noch nie verstanden.
Sie nahm einen Schluck aus der Tasse. Der fade Geschmack des Tees passte zu der Lethargie, die zusammen mit dem dünnen, fast unsichtbaren Rauchfaden, der aus Rons Zigarette stieg, in der Luft hing.
In den Büros herrschte absolutes Rauchverbot, doch wagte niemand zu protestieren, wenn die Ermittler in Situationen höchster Anspannung zu den Zigaretten griffen. Es war unglaublich. Im Polizeipräsidium wurde das Gesetz bewusst gebrochen. Aber wer wollte es ihnen verbieten?
Zumindest hielt der Rauch eine Fliege fern, die es auf den Kaugummi abgesehen hatte, der am Rand des Aschenbechers klebte. Das monotone Brummen ging Myriam auf die Nerven. Gleichzeitig empfand sie Bewunderung für das Insekt, das mit einer stupide zu nennenden Geduld den Rauchfaden umkreiste, nur um auf einem ausgelutschten Kaugummi zu landen. Diese Geduld brachte Myriam beim Anblick von Ron und Henri nicht auf. Sie kämpfte mit dem Impuls, die beiden anzuschreien.
Während Ron müde in seinem Stuhl lümmelte, die Füße auf dem Schreibtisch, und aus Papier Kugeln formte, die er unaufhörlich in den überfüllten Papierkorb warf, blätterte Henri mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck die Post durch. Ein Umschlag nach dem anderen wurde aufgerissen. Ohne den Inhalt wirklich zu lesen, legte er die Briefe zur Seite. Jetzt wäre ein Moment, von dem Anrufer zu erzählen. Stattdessen sagte sie ungeduldig: »Lasst uns anfangen. Ich habe nicht viel Zeit.«
Keiner der
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