Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
ich nicht ahnen, dass mich der nächste Tag in die Mitte eines Wirbelsturms tragen sollte …
Konstanz, Dominikanerkloster, 20. März 1415
Der Gefangene hockte auf seiner hölzernen Pritsche unter der vergitterten Fensteröffnung und starrte zum Licht hinauf. Wie eine zerfledderte Krähe sah er aus in seinem zerrissenen schwarzen Gewand und mit den wirren Haaren, die ihm strähnig vom Kopf hingen. Hin und wieder krümmte er sich, stöhnte, erbrach sich in einen Eimer, der schon einen widerlich riechenden Bodensatz an Mageninhalt und Galle enthielt. Er war körperlich am Ende, hatte kaum noch Kraft, um aufzustehen, aber seinen Geist hatten sie nicht brechen können. Noch nicht. Ächzend legte er sich auf den Rücken und schloss die Augen.
Weit war er gekommen, er, der Sohn eines kleinen Fuhrmanns aus dem verdreckten, bettelarmen Dorf in Böhmen. Aufgewachsen war er inmitten von Hühnermist und Schweinekot. Nicht einmal einen Nachnamen hatte er gehabt; erst als er auf die Lateinschule nach Prachatice ging, wo er sich als Sängerknabe das Schulgeld verdienen musste, hatte er sich nach der Ansammlung schäbiger Bauernhöfe genannt, aus der er stammte: Husinec – Hus, zu deutsch: Gans.
Weil seine Klugheit dem Pfarrer auffiel, hatte er studieren dürfen, in Prag, an der berühmten Karls-Universität. Und dort war er auch zum ersten Mal auf die Lehren des Oxforder Religionsgelehrten Wyclif gestoßen. Tschechische Adelige, von denen etliche seit der Vermählung von König Wenzels Schwester Anna mit Richard II. von England in Oxford studierten, hatten Wyclifs Ideen nach Böhmen getragen. Hus lächelte, dann presste er mit einem kleinen Stöhnen die Hand auf den schmerzenden Magen. Oh, welche Offenbarung waren die englischen Gedanken damals für ihn gewesen! Er hatte die neue Lehre aufgesogen wie ein Schwamm, hatte sie fortentwickelt, weitergedacht. Es schien alles so einfach, am Anfang. Wie lange war es nun her, dass man ihn zum Priester geweiht hatte? Fünfzehn Jahre, konnte das sein? Ah, wie hoch hinauf hatte ihn sein Weg seitdem geführt! Dekan war er geworden, dann Professor für Religion und Philosophie, dann Rektor der Prager Universität. Aber wichtiger als der Aufstieg in hohe Ämter war ihm immer das Predigen gewesen. Nein, nein, nicht wie die anderen auf Lateinisch, damit es auch ja keiner aus dem Volk verstand! Nein, er, Hus, predigte tschechisch, und er sang sogar tschechische Kirchenlieder gemeinsam mit den Gottesdienstbesuchern. Die Prager Betlehemkapelle war jedes Mal zum Bersten voll, und sein Ruf reichte bald weit über Böhmen hinaus. Die Menschen kamen von nah und fern, um seinen Worten zu lauschen. Die Königin Sophie berief ihn zu ihrem Beichtvater. Er wurde zum Synodalprediger, zum einflussreichsten Theologen des Landes, und seine neue Lehre fand überall begeisterte Anhänger.
Dann der erste Rückschlag: Der Prager Erzbischof, verärgert über die Forderung nach Armut und Lasterfreiheit des Klerus und höchst erbost über die Angriffe auf den Papst, verbot ihm das Predigen. Vergebliche Liebesmüh! Er, Hus, ließ sich nicht von seinem Weg abbringen, er predigte weiter, unermüdlich, im Bewusstsein, den wahren Glauben in sich zu tragen. Niemals hätte er damals gedacht, dass dies der Anfang eines todgefährlichen Weges sein könnte. Auch Wyclif, sein Vorbild, war schließlich zu Lebzeiten nicht allzu sehr behelligt worden.
Doch dann ging alles unerwartet schnell. Vor fünf Jahren hatte er hilflos mit ansehen müssen, wie sie seine Handschriften – es waren über zweihundert – öffentlich verbrannten. Er hatte den Schmerz beinahe körperlich gespürt, als sich die Flammen ins Pergament fraßen. Dann folgte der Kirchenbann. Dann die Ausweisung aus Prag, der er nicht nachkam – Unruhen waren deswegen ausgebrochen, so dass König Wenzel ihn noch in der Hauptstadt dulden musste. Doch vor fast drei Jahren hatte er endgültig fliehen und sich auf den Burgen adeliger Gönner verstecken müssen. Immerhin hatte er in dieser Situation die Zeit gefunden, sein wichtigstes Werk zu schreiben, das all seine Thesen zusammenfasste: De Ecclesia – Die Kirche. Sein ganzer Stolz! Schließlich war der Ruf zum Konzil gekommen. Alle seine Freunde hatten ihm abgeraten. Man will dich nur erniedrigen, zum Widerruf zwingen, hatten sie gesagt. Aber König Sigismund sicherte ihm freies Geleit zu, und das hatte den Ausschlag gegeben. Ein Königswort galt … ja, das hatte er damals geglaubt! Endlich habe ich Gelegenheit,
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