Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Zugbrücke, die Zinnen auf dem Südflügel des Palas. Er sah den Weinberg hinter der Festung, den Wirtschaftshof, der auf der anderen Seite des Flusses lag. Und ihm war, als sei er niemals fort gewesen. Ein warmer Wind blies vom Tal her und wehte die Gerüche seiner Kindheit herbei, die Grillen zirpten ihr uraltes Lied, das nur hier so klang und nirgendwo anders. Ezzo spürte, wie ihm das Herz aufging, so plötzlich, so weit, dass er dieses Glück kaum begreifen konnte. Dies hier war seine Heimat. »Ja«, sagte er mit belegter Stimme. »Das ist Riedern.«
»Lass uns doch gleich hinreiten!«, rief Finus.
»Nichts da«, sagte Ezzo entschlossen und trieb seinen Schimmel an. »Übermorgen sind wir in Würzburg.«
Finus prustete seine Enttäuschung hinaus und gab seinem Maultier die Fersen.
Tatsächlich schafften sie die Strecke in der geplanten Zeit. Gerade rechtzeitig vor der Sperrstunde bei Sonnenuntergang passierten sie das Stadttor und nahmen in der nächstbesten Herberge Quartier. Sie hatten Glück, die Wirtschaft zum Weißen Lamm war sauber und gemütlich, und auf dem Rost neben dem Feuer brutzelte es appetitlich: Hier staken ganz oben kleine Vögel, darunter Stücke vom Lamm und ganz unten eine Karbonade vom Schwein. Fett tropfte zischend in die Pfanne, die unter dem Fleisch aufgestellt war.
Während sie aßen, erkundigte sich Ezzo bei der Wirtin nach den Fahrenden. »Ein Spielmann und Spaßmacher, eine Wahrsagerin, ein Bärenführer, ein Harfenspieler und eine reisende Medica, habt Ihr etwas von einer solchen Truppe gehört?«
Die dralle Wirtin schüttelte den Kopf. »Außer einem Grüppchen gottsmiserabler Schauspieler und ein paar fahrenden Pfeifern und Moriskentänzern waren in den letzten Monaten keine Spielleute hier«, meinte sie nach einigem Nachdenken.
Finus und Ezzo waren so enttäuscht, dass ihnen der Braten gar nicht mehr schmeckte. Hatten ihre Freunde den Reiseplan geändert? War ihnen etwas zugestoßen? Es war merkwürdig – überall auf dem Weg hatten Leute ihnen von Pirlos Truppe berichtet, von Konstanz bis Heidelberg. Wo aber waren sie nun geblieben? »Lass uns zu Bett gehen«, sagte Ezzo und versuchte, seine Sorge vor Finus zu verbergen. »Morgen sehen wir weiter.«
Sie teilten sich ein Lager unter dem Dach; der Falke plusterte sich auf dem Bettpfosten auf. Es war ein langer Tag gewesen, und der Luxus einer Strohmatratze mit frisch gewaschenem Bettzeug ließ Ezzo trotz der Enttäuschung schnell einschlafen. Nicht so Finus. Eine Weile lag er wach und horchte auf die tickenden Holzwürmer in den trockenen Balken. Dann stand er leise auf, zog sich wieder an und tappte auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Bis zur Mitternacht hatten immer irgendwelche Schänken offen, solange kein Feiertag war. Finus strolchte durch die Gassen und wich vorsichtshalber dem Nachtwächter aus, damit der ihn nicht heimschickte. In jeder Wirtsstube fragte er nach Pirlos Truppe, aber niemand konnte ihm weiterhelfen. Er wurde müde, und sein Unternehmungsgeist sank. Eine Taverne noch, sagte er sich, dann würde er zurück in sein Bett gehen.
Irgendwo schlug eine Uhr die zwölfte Stunde, als er vor der Tür des »Schwarzen Ochsen« stand. Drinnen war schon alles leer bis auf einen jungen Saufbeutel, der mit dem Kopf auf der Tischplatte lag und schnarchte wie zehn Bierkutscher. Ein glatzköpfiger Mann in mittleren Jahren trug die letzten Krüge und Becher ab und wischte mit einem nassen Lumpen über die Tische.
»Holla Herr Wirt!«, grüßte Finus großspurig und trat in die Stube.
»Wir haben schon geschlossen, Kleiner«, knurrte der Kahle und stemmte die Hände in die Hüften. »Und du gehörst überhaupt ins Bett!«
»Ich suche nur jemanden«, antwortete Finus. »Habt Ihr vielleicht … «
Von der Küche her kam ein Schrei, und dann umschlangen den verdatterten Jungen auch schon zwei Arme von hinten und drehten ihn herum. »Du lieber Heiland!« Janka lachte und weinte gleichzeitig. »Bist du’s wirklich? Herrje, lass dich drücken, mein Bursche! Pirlo! Pirlo, komm schnell! Finus ist da!«
Finus konnte sich Jankas stürmischer Liebkosungen kaum erwehren. Der Herzog von Schnuff schoss hechelnd die Treppe herunter, und dann kam auch noch Pirlo aufgeregt herabgekeucht, um Finus in die Arme zu schließen. »Alter Herumtreiber«, brummte er und zuckte mit seinem Schnurrbart, wie immer, wenn er gerührt war. »Was hat das lange gedauert!«
Am nächsten Morgen saßen alle im »Ochsen« beisammen und feierten
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