Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Titel: Die Sisters Brothers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick deWitt
Vom Netzwerk:
auf reine Diebstähle. Für mein Unglück hatte ich immer noch keine passende Erklärung. Noch wenige Monate zuvor hatte ich alles gehabt, ein Dach über dem Kopf, Bücher, Essen so viel ich wollte – und jetzt das. Ohne eigenes Verschulden, wie ich fand, musste ich mich jeden Abend in Ställen verkriechen und mich mit Mist zudecken, nur um nicht zu erfrieren. Irgendwann sagte ich mir: Hermann, die Welt hat ihre Faust erhoben und dich zu Boden gestreckt, es wird Zeit, dass du zurückschlägst.«
    »Was hast du gestohlen?«
    »Anfangs nur das, was ich gerade brauchte, hier ein Brot, dort eine Decke oder ein Paar Wollsocken, Kleinigkeiten, die man eigentlich niemandem verwehren kann. Trotzdem wurde ich mit jedem Mal gewiefter und dreister und leider auch gieriger. Schon nach kurzer Zeit war nichts mehr vor meinem Zugriff sicher, und ich tat es zunehmend zu meinem Vergnügen. So habe ich Sachen gestohlen, für die ich nicht die geringste Verwendung hatte, zum Beispiel ein Paar Frauenstiefel oder eine Babykrippe. Einmal ließ ich aus einem Schlachthaus sogar einen Kuhkopf mitgehen. Wofür? Welchen Nutzen hatte ich davon? Als mir der Kuhkopf zu schwer wurde, warf ich ihn in einen Fluss. Eine Weile trieb er so, stieß dann gegen einen Felsen und versank. Für mich wurde Stehlen zu einer Art Sucht, es war meine Rache an der Welt, in der eben nicht jeder hungern und frieren musste. Gleichzeitig gewann der Alkohol immer mehr Macht über mich. Ich war eindeutig auf die schiefe Bahn geraten, wie es so schön heißt.«
    »Mein Vater war Trinker. Und Charlie säuft ebenfalls.«
    »Das Problem ist, es lässt einen nicht los. Natürlich wäre es das Beste, der Flasche für immer Lebewohl zu sagen, das ist mir bewusst. Ich vertrage keinen Schnaps, und er verträgt sich nicht mit meinem Leben, warum also nicht ein für alle Mal aufhören? Aber nein, das geht nicht, das wäre zu einfach und viel zu vernünftig. Insofern stimmt auch der Vergleich mit der schiefen Bahn. Wer auf der schiefen Bahn ist, kann nicht mehr anhalten. So vergingen Wochen und Monate, in denen ich äußerlich verwahrloste und innerlich verkam. Das muss nicht zwingend so sein, wie man hin und wieder sieht. Es gibt durchaus Menschen, die alles verloren haben und sich nicht so gehen lassen. Die stolz sind auf ihre gewaschenen Hände und gepflegten Fingernägel. Männer, die es schaffen, trotz ihrer Armut einmal in der Woche zu baden. Die jeden Sonntag in die Kirche gehen, sich bescheiden auf die Bank setzen, ihr Kreuz ohne Bitterkeit auf sich nehmen und dabei noch respektabel aussehen. Doch so einer war ich nicht, eher das Gegenteil. Mich zog Schmutz aller Art magisch an, ich wollte mich darin wälzen, wollte im Schmutz leben. Die Zähne fielen mir aus, aber das gefiel mir. Die Haare ebenso, ich hatte nichts dagegen. Ich war der Dorftrottel, der gefährliche Irre, nur dass sich mein Dorf über die gesamten Vereinigten Staaten erstreckte. Zu guter Letzt gelangte ich zu der unumstößlichen Überzeugung, dass ich nur noch aus menschlichen Schlacken bestand.«
    »Was?«
    »Aus menschlichen Exkrementen. Kacke. Meine Knochen waren verhärteter Kot, durch meine Adern rann Jauche. Ich will das nicht näher ausführen, denn es lässt sich eigentlich nicht erklären. Ich litt, wenn mich nicht alles täuschte, unter Skorbut. Dies hat, zusammen mit meiner Trinkerei und meinen psychischen Erregungszuständen, zu solchen Vorstellungen geführt.«
    »Also ein lebender Abfallhaufen.«
    »Genau. Diese Vorstellung bereitete mir sogar heimliche Freude. Und noch mehr Freude hatte ich daran, in einer dichten Menschenmenge unbegleiteten Frauen an den nackten Arm zu grabschen. Nichts auf der Welt war für mich so befriedigend wie der Gegensatz zwischen mir, dem schmutzstarrenden Irren, und ihren blassen zarten Händen.«
    »Damit macht man sich aber nicht gerade beliebt.«
    »Sagen wir mal, ich war ein beliebtes Gesprächsthema. Ansonsten war ich verachtet. Aber ich blieb nie so lange an einem Ort, dass sich Gerüchte an meiner Person festmachen konnten. Ich war zwar ein Irrer, aber eben kein Idiot. Bevor ich Prügel bezog, zog ich lieber weiter. Ich stahl ein Pferd und verdrückte mich schnell in die nächste Stadt, wo frische blasse Frauenarme auf mich warteten. Meine Tage verbrachte ich in Schmutz und Hässlichkeit und nachtschwarzer Sünde. Ich hielt mich mit Müh und Not am Leben und wartete und hoffte wahrscheinlich auf den Tod. Doch eines Morgens erwachte ich und fand mich an dem

Weitere Kostenlose Bücher