Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
streng dich an. Okay, ich sage es dir. Ich sah unseren Briggs, und er trug einen weißen Kittel und stand gedankenverloren vor einer Art Versuchsaufbau mit allerlei Brennern und Kolben, und überall im Zimmer lagen dicke Bücher und Wälzer.
»War er Chemiker?«
»Eher wohl Hobbychemiker und nicht einmal ein guter, wie ich später erfahren sollte. Aber der Anblick des kleinen Labors nahm mich natürlich sofort gefangen. Ohne zu wissen, wie, trat ich ein und starrte wie hypnotisiert auf dieses Wunderwerk. Inzwischen hatte Briggs den ungebetenen Gast bemerkt, er wurde rot und befahl mich unter Verwünschungen wieder hinaus. Ich bat vielmals um Verzeihung, doch das interessierte ihn nicht, er setzte mich vor die Tür. In dieser Nacht konnte ich zum ersten Mal seit langer Zeit nicht schlafen. Der Gedanke, was sich alles an Büchern und chemikalischen Paraphernalien in diesem Zimmer befand, hatte erneut meinen Bildungshunger geweckt. Mehr noch, ich war wie von einem Fieber ergriffen und setzte mich noch in der Nacht bei Kerzenschein hin, um Briggs einen Brief zu schreiben, in dem ich ihm darlegte, wer ich war und wer mein Vater gewesen war, und dies mit der Bitte verband, künftig als sein Gehilfe zu fungieren. Den Brief schob ich unter seine Tür, und er ließ mich am nächsten Morgen zu sich kommen. Erst war er unentschlossen, doch als er sich vom Ernst meiner Absicht und insbesondere von meiner Vorbildung überzeugt hatte, wurden wir schnell handelseinig. Ich sollte ihm bei seinen Experimenten helfen, im Gegenzug erhielt ich, wenn auch zeitlich begrenzt, Zugang zu seinen Büchern und Gerätschaften. Dafür gab ich gerne die abendlichen Pokerrunden und den Bourbon und die schmutzigen Witze hin und machte mich umgehend daran, ein für Kasernenverhältnisse anspruchsvolles Labor aufzubauen. Geleitet von meiner Intuition und nicht zuletzt von den zahlreichen Büchern in Briggs’ Bibliothek, stieß ich irgendwann das Tor zum Licht auf.«
Warm machte eine Pause, um sich einen Kaffee einzugießen. Er bot mir auch einen an, aber ich lehnte ab. Er trank einen Schluck und nahm den Faden seiner Erzählung wieder auf.
»Ich weiß nicht, wie viel Zeit seit meinen frühen Studienjahren vergangen war, doch ich hatte unterdessen alles unternommen, mich zugrunde zu richten, und nun fehlten mir selbst für einfache Dinge alle Voraussetzungen. Zum Beispiel fragte ich mich, als ich mich erstmals wieder vor ein Buch setzte, ob mein Hirn die gedruckten Wörter noch entziffern konnte. Man darf nicht vergessen, das Gehirn ist ein Muskel, ich würde ihn erneut trainieren müssen – ist doch so, oder? Aber welche Überraschung, als ich merkte, dass sich mein Hirn nach wie vor in guter Verfassung befand, ja, dass es sich sogar verbessert hatte – wohl für den Fall, dass es noch einmal gebraucht würde. Dieser Zeitpunkt war nun gekommen, und mein Hirn, aus Angst, es könne einmal ausrangiert werden, fiel über jede Seite mit nie gekanntem Eifer her. Es gab so viel nachzuholen, und genau das tat ich und erhielt dafür, Monate später, den Lohn, als mir die Idee für die Goldformel kam. Oder sollte ich lieber sagen, als sie mich traf wie ein Stein, der gegen meine Brust geschleudert wurde? Tatsächlich fiel ich in diesem Moment beinahe vom Stuhl. Der gute Briggs hatte keine Ahnung, wie mir geschehen war, denn zunächst konnte ich nicht einmal sprechen. Dann stürzte ich zu Papier und Tinte und wollte eine Stunde lang allein sein.
»Was hielt Briggs von deiner Idee?«
»Das weiß ich nicht, denn ich habe sie ihm nie verraten – was er mir immer übelnahm. Nicht dass ich ihm persönlich misstraute. Ich war nur der Meinung, dass niemand auf der Welt dieses Wissen für sich behalten könne. Ich sage dir, so ein Wissen ist eine Bürde, der niemand gewachsen ist. Natürlich war Briggs beleidigt, und er schickte mich zurück ins Glied sozusagen, zu den einfachen Soldaten und ihrem öden Dienst. Aber sogar dort versuchte ich eine Zeitlang, meine Arbeit fortzusetzen. Als sich dies als unmöglich herausstellte – die Männer machten sich einen Spaß daraus, meine Aufzeichnungen zu verstecken oder zu bekritzeln –, blieb mir als letzte Möglichkeit nur die Fahnenflucht. Diese Idee jedoch hatte auch einer meiner Stubenkameraden. Er wurde geschnappt und noch am selben Tag vor ein Erschießungskommando gestellt. Die Aussicht, dass mir dasselbe widerfahren konnte, war natürlich abschreckend. Gleichzeitig wuchs meine Verzweiflung, denn ich hatte
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