Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch.« Daniel erscheint auf halber Treppe. Er wirkt gleichermaßen belustigt und beunruhigt.
Da ich mir ein wenig lächerlich vorkomme, nehme ich die Maske ab. Der Kaufmann kommt die Treppe herab und umarmt mich herzlich. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, so von einem anderen Menschen umarmt zu werden. Ich kann mich nicht erinnern, wann es mir das letzte Mal passiert ist. Einen Moment stehe ich einfach nur da, unfähig zu reagieren, weil ich nicht weiß, was ich machen soll, dann erwidere ich die Umarmung.
»Ich freue mich sehr, dich zu sehen, mein Junge. Es sind schreckliche Zeiten.«
Ich erkundige mich nach seinem Haushalt. Er erzählt, dass er die Diener nach Hause geschickt hat, damit sie sich um ihre Familien kümmern können. Seine Frau ist oben und schläft, nachdem sie die ganze Nacht bei ihrer Cousine verbracht hat, um ihr bei der Geburt ihres Kindes zu helfen. »Manche Leute würden sagen, dass es ein schlechtes Omen ist, in eine Zeit geboren zu werden, in der die Pest wütet, doch ich finde, dass Gott uns damit ein Zeichen gibt: Nichts ist stärker als die Liebe, nicht einmal der Tod.«
Darauf kann ich nur nicken. Wir trinken Tee, den der Kaufmann mit der bedächtigen Sorgfalt desjenigen zubereitet, der sich mit ganzer Kraft auf eine ungewohnte Aufgabe konzentrieren muss. Ich erkläre ihm meine Mission. Daniels Blick ist verschleiert, schwer zu deuten, als er hört, dass Ismail einen europäischen Arzt braucht, einen, der sich mit Behandlungsmethoden aus Rom, Paris oder London auskennt.
»Der Sultan kann sich alles Mögliche wünschen.«
»Und ich muss es für ihn finden. Oder aber die Konsequenzen tragen.«
Der Kaufmann verzieht nachdenklich den Mund. Nach einer Weile fragt er: »Warum machst du das, Nus-Nus?«
»Mache ich was?«
»Arbeitest weiter für Moulay Ismail. Der Mann ist, gelinde gesagt, nicht ganz dicht.« Mir sträuben sich die Nackenhaare; als könnten sich Spione in der Wand hinter mir verstecken. Als er sieht, dass ich nicht antworten kann, lächelt er traurig. »Es ist Verrat, die Wahrheit auszusprechen, nicht wahr?« Er beugt sich vor und berührt kurz mein Knie. Habe ich sein Interesse an mir all die Jahre falsch gedeutet? Überall in der Stadt gibt es Männer mit Frauen und Kindern, die nach außen großen Respekt genießen, doch in der Medina einen jungen Geliebten haben. »Hör mir zu, Nus-Nus. Ich habe schon früher Städte gesehen, in denen die Pest wütete: Ich komme aus der Levante. Alle Menschen fürchten sie, und mit Recht. Aber die Pest ist wie Krieg – sie schafft viele Gelegenheiten. Wo es die Pest gibt, dort gibt es auch größere Bewegungsfreiheit, Instabilität, sogar Chaos. Ein Mensch kann verschwinden, ohne Angst haben zu müssen, dass man ihn verfolgt.« Seine blauen Augen betrachten mich durchdringend. »Flüchte, solange du kannst. Verlass Meknès, verlass den verrückten Sultan. Möglich, dass du ein Eunuch bist, aber ein Sklave bist du nicht. Du bist ein intelligenter, kultivierter und gebildeter Mann, der leicht woanders Arbeit findet. Ich könnte dir helfen – ich habe Kontakte in Algier, Venedig, London, Kairo, Safed oder Hebron, Kaufmänner wie ich, Händler und Geschäftsleute, die einen Mann mit deinen Talenten zu schätzen wissen. Du könntest in jede dieser Städte gehen und ein neues Leben beginnen. Ismail hat viel zu viele andere Sorgen, als sich um die Verfolgung eines geflohenen Sklaven zu kümmern. Mach dich aus dem Staub, solange du kannst, oder du wirst es auf ewig bedauern.«
Ich starre ihn an wie ein Idiot. Er hat recht, klar. Und ich habe genug von der Welt gesehen, von der er spricht, die unstete Welt des Handels, in der man nur selten nach seiner ursprünglichen Herkunft gefragt wird. Ich habe oft davon geträumt, Ismails Joch abzuschütteln, mich von Zidana, Abdelaziz, den grässlichen Intrigen und Rachefeldzügen am Hof zu befreien. Aber mit dem Sklavenring im Ohr und dieser Hautfarbe, ohne Geld, Einfluss oder Freunde wäre ich nicht weit gekommen, ehe irgendwer die Chance ergriffen hätte, mich meinem Master zurückzubringen und sich dessen Gunst zu versichern – das wusste ich. Doch jetzt, jetzt, in diesem Chaos könnte ich es vielleicht schaffen und mir ein Leben als Schreibgehilfe, Übersetzer oder Vermittler aufbauen … Plötzlich fühle ich mich leicht, vergnügt, ja beschwingt angesichts der Möglichkeiten. Und dann erinnert mich mein Herz: Ohne Alys kann ich nirgendwohin.
Er liest mir
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