Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
ein viereckiges, mit Spitze verziertes Taschentuch auf dem Teppich am anderen Ende des Raums, auf dem ich vier oder fünf dunkle Flecken erkenne. »Die Frau ist ein Ungeheuer! Nicht nur, dass sie versucht, mich mit ihren Zaubertränken zu vergiften, jetzt schickt sie mir auch noch das …«
Ich trete näher und betrachte das Tüchlein, ohne zu begreifen. Was ist das? Schnipsel von getrockneten Feigen? Harzstücke?
»›Trag es direkt am Herzen‹, hat sie zu mir gesagt. ›Es wird dir Glück bringen.‹ Natürlich hat sie nicht verraten, welche Art Glück gemeint war.«
Ich beuge mich nieder, um es näher zu betrachten.
»Rührt es nicht an!«, ruft Alys.
Es ist Schorf, jetzt erkenne ich es. Getrockneter Eiter und verkrustetes Blut. Instinktiv weiß ich, dass es Fatimas Pestbeulen sind, und fahre zurück. »Maleeo, uralte Mutter, beschütze mich!« Die Worte sind mir entfahren, bevor es mir bewusst wird.
Als ich mich umwende, lächelt Alys mir unter Tränen zu. »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier«, sagt sie und bekreuzigt sich.
»Alys …«, sage ich warnend, und sie lässt die Hand sinken.
»Wir sind gar nicht so unterschiedlich, Ihr und ich, obwohl man es nicht vermuten würde. Wir beide beten im Notfall zu unseren eigenen Göttern.«
»Im Notfall und heimlich, wenn Euch Euer Leben lieb ist.«
Ich schicke Makarim, eine Zange aus der Küche zu holen, und als sie zurückkommt, mache ich ein Feuer im Hof und verbrenne das Taschentuch mitsamt seinem Inhalt. Wir sehen gemeinsam zu, wie es zu Asche wird. Selbst die vergrabe ich.
»Ich dachte schon, Ihr wäret gegangen und hättet mich verlassen«, sagt sie leise.
Ich zögere einen Augenblick, doch dann muss ich es einräumen: »Ich war nahe dran.« Wie nahe dran, muss sie nicht wissen. Während ich meine wenigen Habseligkeiten zusammensuchte, erhielt sie ein Taschentuch mit Gift. Allein bei der Vorstellung kommt mir die Galle hoch.
»Ich könnte es Euch nicht vorwerfen. In solchen Zeiten muss man gut auf sich aufpassen. Ihr solltet gehen, Nus-Nus. Geht jetzt: Es könnte Eure einzige Möglichkeit sein, die Freiheit zu erlangen.«
Wenn Herz und Gewissen gefesselt sind, was für eine Freiheit kann es dann geben? Ich schüttele den Kopf. »Ich kann nicht gehen.«
»Es wäre gelogen, wenn ich sagte, dass ich nicht froh darüber bin.« Sie sieht mich unverwandt an. Obwohl ihre blauen Augen so unglaublich ausdrucksvoll sind, weiß ich nicht, was ich in ihnen lesen soll, aber ich kann den Blick nicht abwenden. Am Ende streckt sie mir die Hand entgegen, eine englische Geste, und ich ergreife sie leicht mit beiden Händen. Sie fühlt sich heiß und lebendig an, doppelt lebendig. Ich senke den Kopf und presse sie auf meine Stirn, aber dann muss ich schnell gehen, denn meine Augen sind feucht.
Die Karawane zieht sich meilenweit durch die Hügel. Dutzende von Karren und Wagen für Ismail und seine persönliche Habe, Kleidung, Juwelen, Gold und Waffen, sein Bett, Teppiche, Decken und Lieblingsmöbel, sein Reise-Hamam, Räucherwerk und Parfüm, Messingpfannen und Kannen, seinen Koran, seine Gebetsteppiche und Lieblingskatzen. Abdelaziz, Doktor Friedrich und ben Hadou reisen mit Ismail, umgeben von den bukhari und der Kavallerie. Ich selbst bin den Haushaltssklaven und unserem armseligen Bedarf zugeteilt: Kleidung, Bettzeug und unsere wenigen persönlichen Habseligkeiten. Hinter uns kommen die Frauen und Kinder sowie die Palastwachen des inneren Hofs, etwa fünfhundert an der Zahl, durchweg Eunuchen. Dahinter die Astronomen und höheren Beamten mit ihren Familien und Haushalten. Dann die Proviantwagen, Malik und sein Küchenpersonal, die Näherinnen, Schneider, Stallburschen, Schmiede und andere Handwerker. Der Gepäckzug windet sich weit hinter uns durch die Hügel, bis er nicht mehr zu erkennen ist. Ich weiß, dass irgendwo dahinten auch ein Heer von Sklaven zu Fuß unterwegs ist, die meisten Afrikaner. Die Christen bleiben in der Stadt, um ihre Arbeit unter Aufsicht der vertrauenswürdigsten, also grausamsten Wachen fortzusetzen. Ismail hat seinen Baumeistern eine lange Liste mit Aufgaben hinterlassen, die er bei seiner Rückkehr vollendet sehen will, und gnade ihnen Gott, wenn sie nicht zu seiner vollsten Zufriedenheit ausgeführt sind.
Nach fünf Tagen Richtung Süden erreichen wir die kühleren Ausläufer des Atlas-Gebirges, und dort, an den klaren grünen Wassern des Flusses Melwiya, schlagen wir unser Lager auf. Mit nacktem Oberkörper trotz der glühenden
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