Die Söhne der Insel: Roman (German Edition)
verwundeter Bruder schlief tief und fest – und eilte zu Morganens Turm. Als er diesen betrat, hörte er, wie sein Bruder einen ihm unbekannten, mächtigen Zauber verhängte. Die Worte dröhnten durch das Treppenhaus zu ihm hinunter. Es war ein Zauber, der seine eigenen Fähigkeiten überschritt, das wusste er. Hätte er Morganens sorgsam abgeschirmten Turm nicht betreten, hätte er nichts davon mitbekommen … und hätte die Tür am Fuß der Treppe
nicht halb offengestanden … Als er sie erreichte, zuckte er vor einem gleißenden Lichtblitz zurück, dann spähte er vorsichtig um die Ecke. Als erfahrener Magier hütete er sich davor, seinen Bruder in seinem Tun zu unterbrechen, falls sich der Zauber gerade in einer heiklen Phase befand.
Aber das sah nicht so aus. Morganen und Kelly standen vor Morganens größtem Seherspiegel, dem, der nie seine Kammer verließ. Kelly hielt irgendetwas in der Hand, und sein Bruder musterte sie misstrauisch.
»Bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragte er sie.
»Ganz sicher. Bist du bereit?« Sie sah ihn an. Keiner von beiden bemerkte Saber im Türrahmen.
»Jederzeit. Tritt hindurch«, sagte der jüngste Bruder.
Saber erkannte, dass das Bild im Spiegel weder das Äußere noch das Innere des Schiffes zeigte … und auch sonst keinen ihm bekannten Ort seiner Welt. Das hieß, dass es sich um einen Ort in ihrer Welt handeln musste.
Das hieß, dass sie ihn verlassen wollte.
Er erstarrte vor Schreck, als seine Frau durch den Spiegel trat. Mit ihrem angesengten Pyjama in den Händen.
In dem Moment, in dem sie die Schwelle überschritt, hörte die Spiegeloberfläche auf, Wellen zu schlagen, was Saber aus seiner Erstarrung riss. » Nein! «
»Heda!« Morganen packte ihn, als er durch den Raum stürzte und versuchte, Kelly zu fassen zu bekommen. »Saber – Saber!«
»Du Bastard!«, brüllte Saber, stieß seinen jüngsten Bruder fort und starrte in den verzauberten Spiegel und auf seine Frau auf der anderen Seite. Er konnte nur mühsam an sich halten; er musste irgendetwas unternehmen, um sie zurückzuholen. »Wie konntest du sie gehen lassen?«
Der rücklings auf dem Boden liegende Morganen lachte – lachte tatsächlich! Zwischen dem Wunsch, seiner Frau zu folgen und zugleich seinem Bruder den Hals umzudrehen hin- und hergerissen musterte Saber erstere furchterfüllt
und Letzteren voller Wut. Sein Bruder setzte sich auf und schüttelte noch immer leise kichernd den Kopf. »Beruhige dich, Saber. Sie kommt ja zurück.«
»Wie bitte?« Sabers Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. Seine Frau auf der anderen Seite des Spiegels rief lauthals etwas und hob dabei ihr Bündel. Ihre Worte drangen schwach, aber vernehmlich an seine Ohren. »Sie kommt zurück?«
»Ja. Und wenn du nichts dagegen hast … ich wäre gerne zur Stelle, um ihr bei der Rückkehr behilflich zu sein.« Seufzend, doch insgeheim über den Erfolg seines Verkuppelungsversuchs hocherfreut, obwohl der »Dank« dafür recht grob ausgefallen war, rappelte sich Morganen hoch. Noch immer lag ein Grinsen auf seinem Gesicht. »Ich bin es allmählich leid, von dir herumgestoßen zu werden, aber ich verzeihe dir. Noch ein Mal. Und nur, weil du sie so liebst.«
Kelly stolperte in ihre alte Welt zurück und fand sich genau zwischen den Linien wieder, die die Mitglieder ihres Mittelaltervereins und die bigotten Stadtbewohner gebildet hatten. Beide Parteien schraken zusammen, als sie wie aus dem Nichts plötzlich auftauchte. Vom schnellen Laufen so unmittelbar nach der Blutspende heftig außer Atem versuchte Kelly sich zu orientieren. Sie entdeckte ihre Freundin Hope, um deretwillen sie hauptsächlich hier war, aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt für ein freudiges Wiedersehen, auch wenn sie sich nicht lange würde aufhalten können. Sie wirbelte herum und hielt ihren schwarz versengten Schlafanzug in die Höhe.
» Mörder! «, schrie sie, was die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sie lenkte. Sie funkelte die Stadtbewohner an, die sie so erbarmungslos schikaniert hatten, und rief sich all das ins Gedächtnis zurück, was sie zu verdrängen versucht hatte, während sie bemüht gewesen war,
sich in einer unbekannten Welt mit fremden, schwer begreiflichen Regeln zurechtzufinden. »Es hat euch nicht gereicht, all diese Lügen über mich zu verbreiten und meine Kunden durch eure abergläubischen Anschuldigungen zu vertreiben, was?
Seht ihr das hier?« Kelly schüttelte das Stoffbündel in ihrer Hand
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