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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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stieß Ulsna hervor, was mit Arions Hand an seiner oder ihrer Kehle keine Kleinigkeit war. »Junge. Kann es beweisen.«
    Arion ließ ihn los und sah zu, wie Ulsna mit zitternden Händen den unteren Rand seines Chiton hob, hoch genug, um etwas erkennen zu lassen, das zweifellos ein kleines, doch unleugbar männliches Geschlechtsteil war.
    »Zu klein für dich, Arion«, rief eines der Mannschaftsmitglieder, andere lachten, doch es war ein erstickter weiblicher Laut, der Arion sich umwenden ließ. Ilian stand da, die Hand auf den Mund gepreßt, als habe sie noch nie einen Phallus gesehen. Und auch Arion selbst fühlte Verlegenheit in sich aufsteigen. Er hätte sich von Laios nicht so leicht ins Bockshorn jagen lassen sollen. Daß er Ulsna dabei erschreckt hatte, war verständlich. Der Junge ließ den Chiton wieder sinken und rieb sich die Kehle.
    »Tut mir leid«, murmelte Arion, gleichermaßen zornig auf Laios wie auf sich selbst, als ihm einfiel, daß der Hals für Ulsna noch wichtiger war als seine Hände. Gleich darauf sagte er sich, daß kein Grund für eine Entschuldigung bestand. Ulsna konnte von Glück sagen, wenn ihm auf dieser Reise nichts Gröberes geschah, und der rauhe Griff war eine Kleinigkeit im Vergleich zu der Schlägerei mit dem Phönizier. Dennoch wußte er nicht, wie er nun mit den beiden sprechen sollte, also murmelte er etwas davon, die Ladung noch einmal inspizieren zu wollen, und ließ sie, so schnell es in Würde ging, zurück.
    Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, daß sich an Ilians bestürzter Miene nichts geändert hatte. Das Mädchen hatte sich wirklich den richtigen Zeitpunkt ausgesucht, um zartfühlend zu werden.
    Ulsna massierte seine Kehle und versuchte, Ilians Blick auszuweichen, bis ihm bewußt wurde, daß es bestenfalls ein Aufschub sein konnte. Alles um sich herum nahm er mit einer Schärfe wahr, die ihn immer dann überfiel, wenn ein Unglück ins Haus stand: das saugende Klatschen der kleinen Wellen an das Holz des Schiffes, das Eichenholz unter seinen Füßen und das belustigte Starren der Seeleute, die Arions kleinem Auftritt gefolgt waren, bis sie sich wieder ihren Arbeiten zuwandten.
    »Nun weißt du es«, sagte er schließlich sehr leise und schloß die Lider, um die Verachtung nicht sehen zu müssen. Sie war ihm nur allzu bekannt. Es war ein Wunder, daß er überhaupt noch am Leben war. Kinder, die beide Geschlechter aufwiesen, wurden für gewöhnlich nach der Geburt ausgesetzt, wenn man sie nicht sofort tötete. Nur den Göttern stand es zu, Männlichkeit und Weiblichkeit in sich zu vereinen. Bei Menschen war es Anmaßung und im höchsten Maße unnatürlich, ein Zeichen dafür, daß Böses bevorstand. Sein verstorbener Meister hatte ihm immer erzählt, daß er den Fund des Säuglings so bald nach dem Verlust seines eigenen Sohnes als Gabe der Götter betrachtet habe, doch dem alten Barden war auch bewußt gewesen, welche Gefahr für ein Kind wie Ulsna bestand, und er hatte das seinem Ziehsohn immer und immer wieder eingehämmert, mit der Unerbittlichkeit, mit der jedes Jahr der Jahresnagel vor dem Tempel eingeschlagen wurde und Pfosten um Pfosten mit einer schimmernden Rüstung bedeckte.
    Vielleicht würde es in Hellas anders sein. Ilian hatte falsche Schlußfolgerungen gezogen, als sie einander kennenlernten, doch Ulsna bereute nicht, sich ihr angeschlossen zu haben. Es wäre nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis jemand ihn nicht halb nackt, wie Ilian zufällig, sondern ganz nackt sah und sich verpflichtet fühlte, ihn anzuzeigen. Er machte sich keine Sorgen, daß Ilian es tun würde, obwohl die Kassiopeia sich immer noch im Hafen von Fregenae befand und Ilian tatsächlich eine Priesterin war. Ulsna wußte ein paar Dinge über sie, die ihn vor einem solchen Schicksal schützen würden, aber er wünschte sich, nicht darauf zurückgreifen zu müssen. Ilian war der erste Mensch seit dem Tod seines Meisters, der ihm die Hand in Freundschaft gereicht hatte.
    Als sich das Schweigen zwischen ihnen dehnte, konnte er trotzdem nicht anders, er mußte sie fragen.
    »Wirst du deine Pflicht tun und dafür sorgen, daß man mich zu Vanth in die Unterwelt schickt?«
    Er hörte sie Atem holen und öffnete schließlich doch wieder die Augen. Ihre Bestürzung hatte einer undurchdringlichen Maske Platz gemacht, die er nicht mehr zu lesen vermochte.
    »Wie könnte ich das«, entgegnete sie, »da ich doch Zeugnis bis zu deinem Tod ablegen müßte, statt dieses Land zu verlassen.«
    Es war

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