Die Söhne der Wölfin
fand, der bereit war, sie das Ägyptische zu lehren, stellte sich heraus, daß die Großzügigkeit des Gottes Apollon ihre Grenzen hatte. Seeleuten den Zutritt zum Tempelgelände zu gestatten, so wurde Ilian bedeutet, ging weit darüber hinaus. Da sie sich jedoch auch nicht mit dem Ägypter in der Öffentlichkeit treffen konnte, ohne ihren mühsam zurückerlangten Status als Priesterin zu gefährden, endete es schließlich damit, daß sie und Ulsna Prokne regelmäßige Besuche abstatteten. Einmal fragte Ulsna Ilian, wie sie Prokne überredet habe, einen Raum für den Unterricht zur Verfügung zu stellen, und bekam als Antwort, sie habe Prokne als Ausgleich versprochen, sie das Schreiben und den Umgang mit Zahlen zu lehren.
»Ich hätte gedacht, wenn Prokne etwas gut kann, dann rechnen.«
»Nun lernt sie eben, es auch schriftlich gut zu können. Hetären haben nichts gegen Gedächtnisstützen, anders als ihr Barden.«
Natürlich blieb der Ägypter nicht lange genug in Korinth, um sie beide mehr als das Radebrechen in einer neuen Sprache zu lehren. Es dauerte eine Weile, bis wieder ein ägyptisches Handelsschiff im Hafen war, und als Ilian schließlich entschied, sie hätten nun alles gelernt, was sich von Seeleuten aufschnappen ließ, war es auch nicht einfach, sich eine Überfahrt nach Ägypten zu sichern. Inzwischen war Arion wieder zurückgekehrt, hatte jedoch bedauernd erklärt, Ägypten komme für ihn vorerst nicht in Frage.
Im Grunde konnte es Ulsna noch immer nicht ganz glauben, als ein phönizisches Schiff mit ihnen an Bord in Sais vor Anker ging. Da die Seeleute erzählt hatten, daß Sais nicht direkt an der Küste lag, hatte Ulsna ständig darauf gewartet, daß die breiten Wassermassen sich endlich zu einem Fluß, wie er ihn kannte, verengen würden, als sie sich, wie sich auf seine Frage hin herausstellte, schon längst auf dem Nil befanden. Für Ulsna war der Nil kein Fluß, sondern eine Meerenge, in der das Wasser aus unerfindlichen Gründen nicht mehr salzig war, was nur zur Unwirklichkeit ihrer ganzen Reise beitrug.
Er wußte, daß sie nun wieder auf sich allein gestellt waren. Iolaos hatte deutlich gemacht, daß sich Ilian in Ägypten selbst zurechtfinden würde müssen, und wenngleich das Orakel während ihrer Zeit in Delphi und Korinth dafür gesorgt hatte, daß es ihr nie an Nahrung oder Kleidung fehlte, hatte man ihr keine Güter mitgegeben, mit denen sie sich Freunde hätte schaffen können. Um seine Person machte Ulsna sich keine großen Sorgen. Alle Geschichten, so lautete ein griechisches Sprichwort, das ihm öfter zitiert worden war, stammten im Grunde aus Ägypten, und so war er überzeugt, daß sie dort einen Barden zu schätzen wissen müßten. Aber als er Ilian fragte, wie sie sich alles Weitere vorstelle, versetzte sie ihn mit ihrer Antwort ein weiteres Mal in höchste Aufregung.
»Du brauchst es nicht zu tun«, sagte sie, als er protestierte. »Aber ich habe lange darüber nachgedacht, und es scheint mir der einzig vernünftige Weg. Ich bin immer noch weit davon entfernt, die Sprache wirklich zu beherrschen. Außerdem muß ich jemanden finden, der mir beibringt, auch in ihr zu lesen und zu schreiben. Wie sonst soll ich Wissen sammeln und überhaupt erst nach Theben gelangen? Ich kenne das Land nicht. Sie hatten noch nicht einmal eine Beschreibung in Delphi, und was mir unsere Lehrer auf den Papyrus malten, stimmt vermutlich in allen Bereichen nicht. Wenn ich jetzt versuche, mich nach Theben durchzuschlagen, stehen meine Aussichten schlechter als die eines Fisches auf dem Trockenen.«
»Und wenn sie dich nie wieder gehen lassen?«
»Ulsna, ich habe einen Esel befreit, glaubst du nicht, daß ich mich auch selbst befreien kann?«
Das Zusammenleben mit Ilian erinnerte ihn manchmal an das Reiten auf einem Pferd ohne Zügel. Nicht, daß er je auf einem Pferd geritten wäre. Doch er hatte Arion und dessen Freunde ein paarmal in Korinth dabei beobachtet und begriffen, warum die Griechen behaupteten, der Gott der Meere habe das Pferd aus einer Welle erschaffen. Einer von Arions Freunden allerdings war bei einem solchen Wettritt gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Es mochte durchaus sein, daß Ilian ihn auch eines Tages in den Tod mitzerren würde, aber der Gedanke, sie zu verlassen, erschien Ulsna immer unerträglicher. Es würde bedeuten, in die Einsamkeit zurückzukehren, und er war sich fast sicher, daß es niemanden mehr geben würde, der ihn in seiner Unnatürlichkeit so
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