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Die Söhne.

Die Söhne.

Titel: Die Söhne. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feuchtwanger
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ihn getroffen hatte, nicht aus Brotteig war, sondern aus Stein. Nicht Constans hatte geladen, andere hatten ihn bedient, schon ließ sich nicht mehr feststellen, wer den Stein in die Röhre geschoben hatte, ob es ein Versehen war, Neugier oder Absicht. Simeon jedenfalls lag da und rührte sich nicht; die Kugel hatte ihn an der Stirn getroffen, gerade überm Auge. Die Jungens standen um ihn herum, einsilbig, betreten, bis endlich Vorübergehende sich einmischten. Dann schaffte man den toten Knaben in das Haus des Alexas.
      Alexas ließ den Josef sogleich holen. Als er ihm erzählte, was man ihm berichtet hatte, stand Josef vollkommen ruhig; nur seine Zähne malmten auf merkwürdige Art. Ein einziger Gedanke füllte ihn an, füllte ihn ganz aus, so daß neben ihm kein anderer Gedanke möglich war: Ich habe mich um den andern bemüht, daß der kein Goi wird; inzwischen haben die Gojim mir meinen jüdischen Sohn erschlagen. Das dachte er unablässig.
      Alexas hatte zu sprechen aufgehört. Josef sagte nichts, er stand mitten im Zimmer, leicht schwankend. »Wollen Sie Janiki nicht sehen?« fragte schließlich Alexas, die Stimme heiser, belegt. Josef schien nicht zu hören. Dann, unvermutet, fragte er: »Bitte?« Und Alexas wiederholte, feindselig: »Wollen Sie Janiki nicht sehen?« Josef, wieder nach einigem Schweigen, sagte, und es klang beinahe zaghaft: »Das geht doch nicht.« Alexas schaute erstaunt hoch, dann fiel ihm ein, daß Josef offenbar an jene Vorschrift dachte, die es dem Priester verbot, sich einer Leiche auf mehr als vier Schritte zu nähern. »Ach so«, sagte er, und in seiner Stimme war etwas wie Verachtung und Enttäuschung. »Sie könnten ihn ja vom Nebenzimmer aus sehen«, schlug er dann vor. »Ja, so ginge es«, erwiderte
    zögernd Josef und folgte dem Alexas.
      Er setzte sich in das Zimmer neben der Leiche. Durch die offene Tür beschaute er seinen toten Sohn. Der lag auf dem umgestürzten Bett; Alexas hatte es umgestürzt, wie man das tat zum Zeichen der Trauer. Alexas ließ ihn allein mit dem Toten, und so blieb er die ganze Nacht.

    Er dachte in dieser Nacht vieles, was er sonst nicht bedachte, und als der Morgen kam, war er um viele Nächte älter geworden. Gemeinhin hatte er Furcht davor, in seine Tiefen zu steigen, er war zu bequem dazu. Aber diesmal waren seine Tiefen aufgerissen, er mußte hinunter. Er dachte übrigens nicht griechisch in dieser Nacht und nicht lateinisch und nicht hebräisch, alle seine Gedanken gingen in dem Aramäisch seiner frühen Jugend, das ihm häßlich schien und das er verachtete.
      Er haderte, er vernünftelte, er gab sich alle Schuld, dem Schicksal, Gott, Dorion. Sein Jammer war ohne Maß, ohne Maß sein Bereuen, ohne Maß seine Anklagen.
      Er hat diesen seinen jüdischen Sohn zu wenig geliebt. Er hat Mara versprochen, ihn zu betreuen, aber er hat ihn schlecht gehütet, und wenn sie ihn fragt: »Wo ist Janiki, mein Kind, dein Sohn?«, dann kann er ihr nichts erwidern. Er hat sein Herz an den Sohn der Griechin gehängt, er war stolz auf diesen Sohn seines Herzens, ihn hat er gehütet, die Hüterin seines jüdischen Sohnes aber weggeschickt und ihn selber schlecht bewacht; so ist der Tod dieses Sohnes verdiente Strafe.
      Wer je hat sich so lächerlich überhoben? Kaum hat Mara den Rücken gekehrt, die Verachtete, zum zweitenmal Fortgeschickte, da war ihr schlecht behüteter Sohn schon verdorben, umgekommen durch jene Gojim, vor denen sie sich gefürchtet hatte, unter denen er selber aber, Josef, einherging mit lässigem Hochmut, ein Herr unter Geringeren. Da sitzt er jetzt, ein Haufen Dreck. Er, der Westöstliche, der Mann mit dem Kosmopolitischen Psalm. Römer hat er sein wollen und Jude zugleich, ein Weltbürger. Ein schöner Weltbürger. Wenn Weltbürger einer ist, der überall hingehört und somit nirgendshin, dann ist er einer. Nichts ist er. Kein Römer, kein Jude. Ein Nichts.
      Flavius Josephus. Der große Schriftsteller. Seine Büste steht im Friedenstempel. Er hat ein berühmtes Buch geschrieben. Er arbeitet an einer »Universalgeschichte« der Juden. »Siebenundsiebzig sind es, die haben das Ohr der Welt, und ich bin einer von ihnen.« Ein Haufen Dreck.
      Er grub tief in sich, und er fand nichts. Er grub tiefer, da fand er Lust. Er grub tiefer, da fand er Eitelkeit. Noch tiefer, da fand er nichts. Noch tiefer, da fand er abermals Eitelkeit. Da erschrak er in seinem Herzen und fürchtete sich sehr.
      Er flüchtete in die erlernte

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