Die Söhne.
denken, mit ihm das Buch Kohelet zu studieren, von seinen Lippen die vertrauten hebräischen Worte zu hören. Paulus las höflich und aufmerksam in dem großen Buch der Geschichten des jüdischen Volkes diejenigen, die der Vater ihm empfahl, die Geschichte Davids und Goliaths etwa oder die des Simson oder die Esthers oder die des Josef, Ersten Ministers des Pharao von Ägypten. Die Übersetzung der Siebzig war leicht zu lesen, Paulus faßte schnell auf, und sein Gedächtnis war gut trainiert. Aber in diesen letzten Monaten hatten ihm die Mutter und Phineas die Überzeugung tief eingebrannt, daß die Lehre der Juden barbarisch sei. Soviel Freude er an den Erzählungen von Odysseus und Polyphem hatte, so sehr sträubte er sich gegen die Geschichte von David und Goliath. Er begeisterte sich an dem Freundespaar Nisus und Euryalus und an den Taten des Herkules, aber David und
Jonathan und die Taten Simsons ließen ihn kalt.
Er spürte gut, wie sein Vater mit aller Kraft des Herzens um ihn bemüht war. Manchmal auch fühlte er Stolz darüber und versuchte, die Liebe des Vaters zu erwidern. Aber es ging nicht. Er war von jeher hochmütig gewesen, und Phineas und die Mutter hatten sein prinzliches Selbstgefühl genährt. Er begriff nicht, daß sich sein Vater nicht einfach zu den Griechen oder Römern bekannte. Warum wollte man gerade ihn, Paulus, zwingen, zu den Juden herunterzusteigen? Und warum konnten seine Mutter und Phineas, die ihn doch liebten, ihn nicht vor diesem Schicksal bewahren? Immer fremder erschien ihm sein Vater, immer mehr an ihm fand er unwürdig, und wenn Josef noch so reines Griechisch sprach, glaubte Paulus, den verhaßten Dialekt des rechten Tiberufers durchzuhören.
Einmal freilich vermeinte Josef, er habe das Herz seines Sohnes gewonnen. Der nämlich überwand eines Tages seine Scheu, begann davon zu sprechen, daß er doch einen Bruder gehabt habe, Simeon, fragte den Vater, warum er ihn nie mit diesem Bruder zusammengebracht habe, und bat ihn, von Simeon zu erzählen. Josef willfahrte gern. Es schien ihm ein großer Sieg und eine Erfüllung, daß Paulus ihn fragte, und er sprach mit lebendigen und beredten Worten von seinem verlorenen, jüdischen Sohn. Er wußte nicht, daß es Neid war, der Paulus trieb, sich nach dem Toten zu erkundigen. Paulus beneidete den Toten.
Phineas hatte ihn, stoischen Prinzipien gemäß, gelehrt, daß der Mensch durch die Kraft des Gemütes den Schmerz besiegen und auch das Widerwärtigste ertragen könne. War der Mensch am Ende seiner Kraft, dann gab es einen würdigen Ausweg, der ihn mächtiger machte als selbst die Götter: es stand ihm frei, sich den Tod zu geben. Viele große Männer hatten das getan, es war ein würdiges Ende, ein Ausblick, der dem Paulus in letzter Zeit immer mehr Trost gab. Manchmal, wenn er in den Stall ging, um das Futter im rechten Maße zu mischen, versank er, kauerte in seiner Ecke, und selbst das Gemecker seines Ziegenbockes Paniscus konnte ihn nicht aus seiner Versunkenheit retten. Er dachte, wie das sein wird, wenn er sich den Tod gibt. In der Schule hatten sie Aufsätze schreiben müssen über jene Arria, die, ihrem Gatten in den Tod vorangehend, ihm den Dolch reicht mit den Worten: »Mein Pätus, es tut nicht weh.« Er stellte sich vor, wie man künftig in den Schulen Aufsätze schreiben wird: »Paulus, vor die Wahl gestellt, Barbar zu werden oder zu sterben, zieht den Tod vor. Welches sind seine Gedanken vor dem Ende?« Früher, das wußte er, war es leicht gewesen, sich Gift zu verschaffen. Jetzt machten sie einem das schwer. Aber er konnte sich zum Beispiel im Bad die Pulsadern öffnen. Oder er konnte, das schien ihm noch reizvoller, Goldstaub einhandeln und ihn einatmen. Wenn er seine Ziegen verkauft, bekommt er genug Goldstaub dafür. Wenn er erst tot daliegt, dann sieht sein Vater, was er erreicht hat. Jeder muß die Größe eines solchen Todes begreifen, und sosehr Phineas und seine Mutter um ihn trauern werden, sie werden seinem verklärten Genius mit Stolz Opfer bringen.
Weder Josef noch der Knabe sprachen über das, was ihnen das Herz abdrückte. Josef, bei Tische, zitierte Homerverse, sprach von Reisen, von Büchern, von Stadtereignissen, von des Paulus Schule und seinen Kameraden. Er sah, daß der blasse, bräunliche Kopf seines Jungen immer blasser und hagerer wurde. Er sah, daß er an den Knaben nicht herankam. Sein Sieg war wertlos. Dorion hatte recht gehabt: der Widerstand kam aus dem Innern des
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